Die Tochter der Tibeterin
nicht auch?«
»Bestimmt.«
Ich nahm seine braune Hand mit den schlanken Fingern, drückte sie an meine Wange. Unter meinen Händen fühlte er sich warm an, doch sein Blick war leer, als hielte ein Traum ihn fest. Es gab so viele Worte, die wir nicht sagen konnten. Über Kunsang sprachen wir nicht mehr.
Und so, seine Hände auf meiner nackten Haut, das vertraute Gewicht seines Körpers auf meinem, befiel mich die Vorstellung, dass es vielleicht die falsche Liebe war. Dass die Vorstellung, zwei Menschen aus entgegengesetzten Welten könnten in Harmonie leben, nicht den Tatsachen entsprach. Was dachte er darüber? Ich schwieg, und er schwieg auch. Mit einem Mal sah ich ihn dort, wo er hingehörte. Wo es einen anderen Himmel gab und eine andere Sonne. Wo sein Blick an den Gipfeln hing, wo der Wind seinem Pferd die Beine unter dem Leib wegriss, wo sein Pfeil, einmal abgeschossen, die Sterne traf, wo es nach frischem Frühlingsgras und Yakmist roch. Wo er ein Pferd besteigen und eine Frau lieben konnte, wann immer er wollte. Das war sein Leben; für ein anderes 54
war er nicht geschaffen. Ich bin dumm, dass ich ihn liebe, dachte ich.
Ich hielt die Augen geschlossen, als ich ihn streichelte – ich wollte meine Träume bewahren. Aber unter meinen Händen spürte ich keine glatte Haut, ich spürte nur Narben. So viele Narben! Jede Narbe erzählte eine Geschichte; es war die Geschichte Tibets, einer misshandelten, geopferten Welt. Doch wem genügt schon eine Geschichte? Tibet war für mich der Ort des Kummers, ein gespenstischer Ort, wo ich die seltsame Seligkeit der Kindheit suchte, auf ewig verschwunden und unerreichbar. Ich drückte meine Lippen an Atans Schulter. Seine Glieder waren warm, ermüdet von der Liebe. Ich spürte tief in mir den warmen Strom, der von ihm ausging, den intimen Pulsschlag des Lebens. Versunken lauschte mein Ohr seinen heftigen, sich nur langsam beruhigenden Herzschlägen.
»Ich werde immer hoffen«, flüsterte ich, »dass ich dich wiedersehe. Eines Tages, irgendwann. Sonst würde es für mich ganz unmöglich, dich zu verlassen.«
Er rückte ein wenig von mir ab, fiel zurück, wie ein vom Körper losgelöster Schatten. Mit dunkel glitzernden Pupillen, die mir nicht nur ins Gesicht, sondern wirklich ganz tief in die Augen blickten.
»Ich werde auch hoffen«, sagte er kehlig. »Und ich glaube, nicht umsonst. Ich glaube es tatsächlich. Das Schicksal hat ein langes Gedächtnis…«
55
5. Kapitel
E s war vielleicht kein Zufall, dass ich – fünf Jahre später – mich so deutlich an diese Zeit erinnerte. Alle Bilder waren noch da, tief in mir, in gewisser Weise wunderbar. Ich konnte sie herbeiholen, sie immer wieder erleben, wann und wo ich wollte. Das war eine Fähigkeit in unserer Familie: dass wir uns in die Vergangenheit vertiefen konnten, mit der gleichen Hingabe, als würden wir uns zum Beispiel in ein Buch vertiefen.
Mein Vater, glaube ich, war der einzige, der Kunsang richtig verstand. Aber Gyala – meine Mutter – machte sich Sorgen.
»Unser Leben mag jetzt einfacher sein«, sagte sie eines Abends zu mir. »Wir haben, was wir brauchen: reichlich zu essen, ein Dach über dem Kopf. Für Menschen, die alles verloren haben, sind solche Dinge von existentieller Bedeutung. Aber oft habe ich das Gefühl, wir sind ärmer geworden, Tara. Unsere Grunderfahrungen verkümmern. Dies betrifft insbesondere die Kinder. Für sie ist alles anders.«
Meine Ungeduld ließ mich ziemlich schroff antworten. »Sicher ist alles anders. Und von wem redest du? Von Kunsang?«
Sie nickte. »Ich verstehe sie nicht.«
Ich wollte mich nicht beunruhigen lassen.
»Was ist los mir ihr, Amla? Etwas Besonderes?«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu, das ebenmäßig war, mit einem ganz feinen Faltennetz, wenn man es aus der Nähe betrachtete. Ihr tief schwarzes Haar, von grauen Strähnen durchzogen, glänzte im Lampenlicht.
»Sie trifft sich mit Freunden. Ich habe ihr gesagt, sei um elf wieder da. Sie ist niemals pünktlich. Warum muss sie stets ihren eigenen Kopf durchsetzen? Es ist doch gefährlich, so spät abends noch draußen zu sein!«
Ich dachte an meine eigene Schulzeit. Drogen gab es schon damals. Ich hatte ein paar Mal davon probiert, und dann war die Sache erledigt gewesen. Amla hatte ich nichts davon erzählt. Das hätte sie bloß unglücklich gemacht. Immer die gleiche Geschichte, dachte ich, das gleiche Bedürfnis nach Selbstbestätigung! Eine neue Generation wuchs heran und alles wiederholte sich.
Weitere Kostenlose Bücher