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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Aber ich war gut in der Schule gewesen, damals, hatte das Gymnasium besucht.
    Kunsang war sogar in der Hauptschule schlecht.
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    Ich sagte:
    »Sie schert sich nicht um Verbote, weil sie genau weiß, dass sie keine Strafe zu befürchten hat.«
    Amla seufzte unglücklich.
    »Das ist wahr.«
    »Du musst strenger zu ihr sein.«
    Sie rieb sich die Stirn.
    »Ich bringe es nicht fertig, Tara. Sie ist frech und vorlaut und tut, was sie will. Und von Tashi konnte ich nie Hilfe erwarten. Er lebt in seiner eigenen Welt.«
    Sie sah mich kummervoll an; es lag eine große Betroffenheit in ihrem Blick. Früher, dachte ich, wäre solcherart Betroffenheit von der ganzen Familie getragen worden, was die Dinge ungemein erleichterte.
    Gyala fürchtete, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Und es gab keine fertige Gebrauchsanweisung für das, was von ihr gefordert wurde. Gyala war nicht mehr zeitgemäß.
    »Kunsang sagt, was sie denkt«, erwiderte ich. »Du kannst es als taktlos empfinden, Amla. Es tut mir Leid, die Jugend ist heute so.«
    »Sie wird erst siebzehn. Und manchmal habe ich das Gefühl, sie lässt mich absichtlich in Sorge.«
    »Das glaube ich nicht. Sie hat schon viel mitgemacht, Amla.«
    Ob sie mal mit Tenzin darüber reden wolle? Nein, das wollte sie nicht! Tenzin Rimpoche war ein Mitarbeiter Seiner Heiligkeit und hatte – wie sie meinte -Wichtigeres im Kopf. Gyala genierte sich, ihn mit ihren Sorgen zu belasten.
    Ich genierte mich nicht. Tenzins Gelassenheit wirkte tröstlich, und ich empfand es als Erleichterung, mit ihm an einem Tisch zu sitzen und ihn sprechen zu hören. Hatte ihn das Kloster zum besseren Zuhörer gemacht? Ich merkte, dass er mir nicht mehr sofort eine Antwort gab, sondern mir die Möglichkeit gewährte, selber eine Antwort zu suchen. Unser gegenwärtiges Leben war von der Wahrheit des Leids geprägt, aber man konnte das Leid anpacken, es in Erfahrung verwandeln, sagte Tenzin. Gleichwohl, das Leben ändert sich stets, und im Allgemeinen sind die Menschen ungeduldig. Tenzin sprach darüber sehr unbefangen. Mit ihm zu reden klärte stets meinen Geist.
    Ich hatte ihn im Dorf Rikon, im schweizerischen Tostal, in der Nähe von Winterthur, besucht. In Rikon, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, kam – wie jedesmal – die Erinnerung an früher auf.
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    Vieles hatte sich verändert, der Ort war größer geworden. Man baute heute anders als vor zehn Jahren, nahm auf Umwelt und Landschaft mehr Rücksicht. Auch die Menschen waren jetzt andere; trotzdem hatte ich das Gefühl, dass alle meine Geschichte kannten.
    Das Rikon-Kloster klebte an einem bewaldeten Hang. Es bestand seit Ende der sechziger Jahre und war, wie alle tibetischen Bauten, nach Süden ausgerichtet. Es war der erste Ort, an dem Tibeter im Exil und Menschen aus dem Westen sich auf geistiger Ebene begegnen konnten. Beim Bau des Klosters war mein verstorbener Großonkel Geshe Dasang Tseten als Berater zugezogen worden.
    Geshe entspricht dem Titel eines Abtes. Ich sah ihn undeutlich in meiner Erinnerung, doch ich weiß noch, wie stolz er auf mich war, als ich – als erste unserer Familie – das Gymnasium besuchen konnte.
    Der Tag war stürmisch, entsprach irgendwie meiner Stimmung.
    Auf der Autobahn prasselte Regen, mit Hagelkörnern vermischt. Ich fuhr sehr vorsichtig, sah, wie weniger besonnene Fahrer mit ihren Wagen an mir vorbeijagten. Während ich bergwärts fuhr, pfiff und heulte der Wind. Gewaltige graue Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Doch als das Kloster in Sicht kam, beruhigte sich der Sturm; am Horizont verwandelte sich das Bronzegelb des Himmels in leuchtendes Türkis. Das Kloster tauchte zwischen sonnenumglänzten, nassen Bäumen auf. Als ich den Wagen am Straßenrand parkte und zum Eingang lief, fielen regenbogenfarbene Perlen von den Zweigen, und die Bäume ließen Tropfen fallen, die wie Funken blitzten. Die Temperatur war stark gesunken, ich fror.
    Das Klostergebäude hatte ich stets als massiv empfunden; nach meinem Aufenthalt in Nepal kam es mir jedoch merkwürdig eng vor.
    Tibeter lieben das Wuchtige, das Massive. Es muss an ihrem Ursprung liegen. Die Bergwelt ist unerbittlich: Nur mächtige Bauten, klobige Dächer schützen den Menschen vor den Naturgewalten, vor Kälte oder Sonnenglut. Tibetische Bauten bewahren ein Geheimnis aus dem Dunkel der Zeit, der sie entstammen. Tibeter wissen, wie gefährdet sie sind, sie rücken zusammen, suchen Zuflucht unter mächtigen Steinen wie die Höhlenmenschen in der Tiefe

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