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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Beruhigung, die ich in diesem Maße sonst nirgends finden konnte. Im Beruf wusste ich immer, was ich wollte, besaß Wissen, wenn nicht sogar Weisheit, aber nur solche der nüchternen Fakten, obwohl es der tibetischen Medizin widersprach. Es wunderte mich selbst, wie verunsichert ich war. Das war eine neue, unangenehme Erfahrung. In meiner Arbeit war ich tüchtig und anerkannt, eingehüllt – so musste ich es mir eingestehen – in den Glanz einer
    »alten Kultur«. Viele Leute tragen ein konventionelles Tibetbild im Kopf; die Sehnsucht nach einem positiven Glaubensmodell ist enorm. Ich mochte es nicht, wenn man uns idealisierte.
    Arnold Kissling, mein früherer Chefarzt, war pensioniert worden; aber er hatte mir eine Stelle im Kantonsspital vermittelt; mein Gehalt war gut, Ärztinnen wurden gesucht. Ich arbeitete drei Tage in der Woche im Triemli-Krankenhaus in Zürich. An zwei Nachmittagen empfing ich Privatpatienten. Meine Praxis lief unter der Bezeichnung »Gesundheitsberatung nach traditioneller tibetischer Medizinlehre«. Tibetische Heilkunde war sehr in Mode, und die Zahl meiner Patienten hatte im Laufe der Zeit deutlich zugenommen, so dass es mir ohne meinen Assistenten Namgyal schwergefallen wäre, die kleine Praxis weiterzuführen. Gleichwohl hatte ich beide Hände voll zu tun… und wenig Zeit für Familienprobleme. Ferien hatte ich seit mehr als drei Jahren nicht genommen. Noch spürte ich selten die Müdigkeit; bloß die Einsamkeit, ja, die war immer da.
    Als ich damals nach Nepal ging, hatte ich meine Wohnung behalten; meine Bank hatte weiterhin die Miete überweisen. Nach ein paar Monaten war eine Freundin meiner älteren Schwester Lhamo für zwei Jahre als Untermieterin eingezogen. So war ich finanziell gut über die Runden gekommen. Kurz vor meiner Rückkehr aus Nepal war die Wohnung wieder frei geworden. Sie lag im Stadtteil Wipkingen, eine gute Gegend. Es war ein Glücksfall gewesen, dass ich sie fand. Das Haus aus den dreißiger Jahren war in den achtziger Jahren umgebaut und restauriert worden; sogar die Aussicht auf die Dächer war schön. Allerdings wohnte ich im fünften Stockwerk, ohne Aufzug, die Stufen waren steil, die Straße recht verkehrsreich (und die Fenster nicht schalldicht), was die Wohnung für mich erschwinglich gemacht hatte. Tibeter sind dem Lärm gegenüber ziemlich unempfindlich; ich schlief gut. Ja, ich mochte meine Wohnung, hatte aber nicht viel Platz – zu zweit konnten wir hier nicht wohnen. Amla hatte mir sofort angeboten, 63
    Kunsang zu sich zu nehmen. Die Fremdenpolizei hatte ihrer Enkelin die Aufnahmegenehmigung nicht verweigert; sie galt als politisch Verfolgte, ihre Mutter war im Gefängnis gefoltert worden. Und da wir ihre einzige Familie waren, hatte man Verständnis gezeigt und den Papierkrieg in Grenzen gehalten. Im Zimmer, das Lhamo und ich uns früher geteilt hatten, stand nur Gerümpel. Wir hatten es gemeinsam aufgeräumt, Platz für Kunsang gemacht. Wir hatten ihr Nachhilfestunden in Deutsch geben lassen, und mit der ihr eigenen schnellen Auffassungsgabe hatte sie die Sprache verblüffend schnell gelernt. Umso weniger verstanden wir, warum ihre schulischen Leistungen so miserabel ausfielen. Lhamo sah sie als Opfer der so genannten Mischkultur. Für dieses Argument hatte ich nur ein Schulterzucken übrig. Ging es uns nicht allen so? Lhamo ließ sich nicht beirren.
    »Du warst schon immer eine Streberin.«
    Ich gab es zu.
    »Ja, deinetwegen.«
    Treuherzig, wie sie war, starrte sie mich verblüfft an.
    »Meinetwegen?«
    »Ja, ich trug eine Zahnspange und du nicht. Alle sagten: ›Lhamo ist ein entzückendes kleines Mädchen.‹ Bei mir hieß es: ›Tara ist sehr lebhaft.‹ Das war nicht dasselbe.«
    Wir lachten. Lhamo war etwas verlegen. Sie hatte blauschwarzes Haar, das fast purpurn schimmerte, klematisfarbene Augen und makellose Zähne. Nach ihrer Scheidung wohnte sie in Bern, arbeitete erfolgreich in einem Reisebüro. Ihr Chef, ein netter, sensibler Mann, hatte seine Frau nach langer Krankheit verloren und sehr darunter gelitten. In Lhamo hatte er eine Partnerin gefunden, die seinen Kummer teilte, ihn aber gleichzeitig heiter und feinfühlig zu trösten wusste. Es war denkbar, dass sie heirateten. Ich war glücklich über Lhamo, sie war freundlich, ausgeglichen und anschmiegsam, für ein normales Leben mit einem guten Mann wie geschaffen. Nicht wie ich, die herb und unsentimental war und jede Sache mit wilder Energie anpackte. Bloß bei Kunsang rannte ich

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