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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mir den Schädel ein.
    »Sie ist so aggressiv, dass ich ihr am liebsten eine kleben würde«, sagte ich zu Lhamo, ein paar Tage nach meinem Gespräch mit Tenzin. »Zu Hause redet sie kaum ein Wort, liegt flach ausgestreckt auf dem Teppich, hört Hip-Hop oder tibetische Musik.«
    »Das passt nicht zusammen«, stellte Lhamo stirnrunzelnd fest.
    »Wie kommt sie auf diese Mischung? Ich verstehe sie nicht.«
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    »Keiner versteht sie. In der Schule ist sie eine Katastrophe. Wenn sie wenigstens dumm wäre! Aber nein, sie ist nicht dumm. Sie hat nur einen Gedanken im Kopf: Geld verdienen. Sie hat es ganz schrecklich eilig damit.«
    Lhamo strich ihre lange Haarsträhne aus der Stirn.
    »Was sagt sie sonst?«
    »Nichts. Sie ist stumm wie ein Fisch. Doch manchmal redet sie von Pala. Ich glaube, sie bewahrt ihn tief in der Erinnerung.«
    »Sie hat ihn sehr gemocht, nicht wahr?«
    Ich seufzte.
    »In der letzten Zeit seines Lebens saßen sie ständig beisammen.
    Wir hatten sogar Probleme, weil sie seinetwegen den Unterricht schwänzte.«
    »Und Pala? Wurde es ihm nicht zuviel?«
    »Nein, im Gegenteil. Amla sagte zu ihm: Schick sie doch weg, wenn sie dir zuviel wird! Aber nein, er freute sich, wenn sie kam. Er schien jedesmal überrascht und entzückt und wollte sie nicht gehen lassen. Zwischen ihnen war etwas Eigentümliches…«
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6. Kapitel

    W ie war es damals gewesen, mit Vater? Er war krank, hatte Darmkrebs. Wir wussten, dass er nicht mehr lange leben würde. Sein Gesicht war eingefallen und bleich. Er hatte fast alle Zähne verloren und lehnte es ab, sich behandeln zu lassen. »Der Zahnarzt ist teuer«, meinte er, »und für mich lohnt es sich nicht mehr.«
    Pala nahm an nichts mehr teil, oder nur oberflächlich; er lebte in seinen Erinnerungen. Zunächst hatten wir gedacht, dass er nicht recht bei Sinnen war; aber nach alldem, was sich später ereignete, empfanden wir nur noch Ehrfurcht vor einem Menschen, dessen Gedanken Raum und Zeit überbrückten. Ihm war eine Gabe verliehen worden, die er als jüngerer Mensch nie hinterfragt hatte und die ihn im Alter mit tiefer Einsamkeit erfüllte. Er war ein Träumer, ein heiliger Mann und nun, am Ende seiner Tage, war Kunsang zu ihm gekommen. Sie setzte sich neben ihn, und beide unterhielten sich flüsternd. Die Gesten seiner abgezehrten Hände drückten eine Art dringender Eile aus, als spürte er den Tod unmittelbar in seiner Nähe. Ich gab ihm Mittel, die seine Schmerzen erleichterten, etwas anderes konnte ich für ihn nicht tun. Es war auch nicht mehr erforderlich, ich hätte ihm keinen guten Dienst damit erwiesen. Oft kam es vor, dass ihm seine Glieder beim Erwachen jeden, selbst den leichtesten Dienst versagten. Dann sagte er mit leisem Lachen, er liege vom Nacken bis zum Fuß in Eisenfesseln.
    Seine Haut fühlte weder das Gewebe des Leintuchs noch das Gewicht der Daunendecke; sie war wie abgestorben. Amla nahm ein angewärmtes Handtuch, massierte, so fest sie konnte, seine Knie, seine Knöchel, seine Schultern, seine Arme, bis die stählernen Klammern sich etwas lockerten. Dann legte Amla eine Anzahl Kissen hinter seinen Rücken, zog ihn an den Händen hoch, und endlich saß er auf dem Bettrand und konnte sich mit ihrer Hilfe ankleiden. Dann ergriff er die beiden Stöcke, die Amla ihm reichte, stützte sich schwer darauf und stand schließlich vom Bett auf – ein Schritt, ein zweiter…
    Im Badezimmer stellte er beide Stöcke in eine Ecke, neigte sich über das Waschbecken. Er benutzte stets nur kaltes Wasser. Nach einer Weile stand er wieder fest und sicher auf den Beinen. Der eine Stock würde ihm genügen, wie immer. Jeder Tag war ein Sieg über Alter und Gebrechen; er lebte die meiste Zeit in einem seltsam 66
    leuchtenden, euphorischen Bewusstseinszustand, in dem Krankheit und Schmerzen bedeutungslos wurden. In diesem Zustand ruhiger Gelassenheit wartete er auf Kunsang. Bald kam sie aus der Schule, das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Augen, die so kühl blitzten, schienen sich beim Anblick des Großvaters auf merkwürdige Weise zu erwärmen. Sie setzte sich zu ihm, und Amla ließ sie allein. Er murmelte vor sich hin, Kunsangs Gegenwart zutiefst bewusst, doch es war, als hielte er ein Selbstgespräch.
    Obwohl er nahezu vierzig Jahre im Exil verbracht hatte, lag ihm die Landschaft Tibets wie eine Erinnerung im Blut. Sein inneres Auge überwand alle Schranken. Er redete eine Sprache, die während seiner Kindheit geläufig gewesen war, unterhielt

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