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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sie nicht im geringsten.
    Ach ja, und sie hat eine schöne Stimme und ein hervorragend entwickeltes Gehör. Sie behält mühelos jedes Lied im Kopf.«
    Tenzin schwieg. Ich fuhr fort:
    »Damals, als Pala noch am Leben war, saß sie stundenlang bei 60
    ihm, hörte zu, wenn er Geschichten erzählte oder ihr tibetische Lieder vorsang. Jetzt hängt sie täglich mit irgendeiner Clique herum.
    Amla kann sie ja nicht zu Hause anbinden! Sie lässt sich mit Männern ein, sie kommt und geht, wie es ihr gerade gefällt. Wir machen uns große Sorgen.«
    Tenzin nickte.
    »Ich werde mit ihr reden.«
    »Das wird sie nicht wollen.«
    »Ich werde unerwartet kommen.«
    »Ja«, seufzte ich, »das ist vielleicht eine Möglichkeit.«
    Er nahm einen Schluck Tee, gedankenverloren.
    »Die Zeit, in der wir leben, wirkt – Jahrzehnt um Jahrzehnt –
    unserer Vergangenheit entgegen. Die Gegenwart hat mit ihr kaum eine Übereinstimmung. Und doch waren die Menschen vielleicht noch nie so wie heute von einer Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens erfüllt und bereit, ihr Raum zu geben… Wenn sie nur wüssten, wo dieser Raum zu finden ist.«
    Ein tiefer Atemzug hob seine Brust.
    »Wir sind umgeben vom Getöse dieser Welt, von ihren Versuchungen, ihren künstlichen Paradiesen.
    Niemand hört zu, wenn innere Not laut wird. Unzählige Menschen sind wie gelähmt von der Vernichtung all dessen, was dem Leben einst Sinn gab. Sie stehen im Bann destruktiver Ängste, die sie bedrohen und vergiften. Aber die Allgegenwart dieser zerstörerischen Macht weckt unweigerlich die Sehnsucht nach dem Schönen und Reinen. Obwohl Kunsang noch jung ist, trägt sie bereits den Schrecken der Leere im Herzen. Sie hat sich ihren inneren Kräften entfremdet. Klarer ausgedrückt: Sie setzt sie ein, um sich selbst zu zerstören.«
    »In ihrem Alter!«
    »Das kann sehr früh beginnen. Sie sucht den Lebenssinn im Spannungsfeld billiger Reize. Beruhige dich, ihre Wesenswurzeln sind nicht verdorrt. Sie schlummern bloß.«
    »Klingt gut!«, erwiderte ich, nicht ohne Sarkasmus. »Aber du hast sie nicht tagaus, tagein am Hals. Amla findet sie unausstehlich.
    Und wenn Amla sich beklagt…«
    »Dann will das etwas heißen, ich weiß.«
    Tenzin runzelte die geschwungenen Brauen.
    »Aber wir stehen immer am Scheideweg zwischen Aufbau und Zerstörung. Das ist die Lage der Menschen.«
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    Ich verzog das Gesicht.
    »Das hört sich ziemlich erbaulich an. Aber was haben wir davon?«
    Ich erzählte meinem Bruder, wie oft schon ich ein Gespräch mit ihr gesucht hatte.
    »Es war stets umsonst. Sie hört nicht zu. Einmal hat sie mir gesagt, sie wüsste ganz genau, dass ihre Mutter eine Hure war. Sie durchschaut ihre Herkunft sehr gut.«
    »Und kann sie nicht loswerden.«
    »Nein. Sie wirkt sehr anmaßend, aber was steckt dahinter? Nichts als Unsicherheit und Angst!«
    »Sie muss ihre Angst loswerden, sonst nützt es nichts. Sie logisch zu verneinen ist kein Weg.«
    »Sie hat ihren eigenen Kopf.«
    Tenzin reckte die langen Arme. Sein Gesicht im Sonnenlicht glänzte wie Kupfer. Ich bemerkte die feinen Falten auf seinen Wangen und dachte, dass er sie bei mir ebenso sah. In Nepal und in Tibet hatte ich mich nicht immer sorgfältig eingecremt.
    »Irgendwann müssen wir unser Leben in die Hand nehmen«, fuhr Tenzin fort. »Bringen wir es nicht selber fertig, sind wir auf die Hilfe unserer Mitmenschen angewiesen.«
    »Sie sagt, sie braucht keine Hilfe.«
    »Natürlich. Was sollte sie auch sonst sagen? Sie redet mit ihrem Körper.«
    »Ja«, seufzte ich, »und der spricht eine deutliche Sprache. Bei Tisch isst sie kaum etwas und erbricht sich anschließend. Sie sagt, dass ihr das Essen nicht schmeckt, und wird immer dünner. Anorexie betrifft viele Jugendliche, ich weiß. Amla sagt, geben wir ihr noch ein paar Jahre Zeit! Das neue Leben, die fremde Sprache sind einfach zu viel für sie. Aber ich habe keine Geduld mehr.«
    »Wie steht es mit Drogen?«
    »Das ist meine größte Sorge«, gab ich offen zu. »Die Drogenszene. Ich wollte mal ihre Pupillen anschauen. Sie ist wütend geworden wie eine Katze. Wirklich schlimm… «
    Ich sah die Szene so deutlich vor mir, dass mir fast schlecht wurde. Tenzin ließ die Augen nicht von mir.
    »Ich will versuchen, mit ihr zu reden. Aber behutsam.«
    Er legte mir leicht die Hand auf die Schulter. Die Berührung tat mir wohl.
    Es ist gut, dass ich es ihm gesagt habe, dachte ich, als ich etwas 62
    später zu meinem Wagen ging. In den Gesprächen mit Tenzin fand ich eine

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