Die Tochter der Tibeterin
ihrer Grotten. Nur die Nomaden sind so hochmütig, Naturgewalten in Zelten oder Jurten trotzen zu wollen.
Die Mauern des oberen Stockwerkes, in kräftigem Braunrot gehalten, leuchteten durch die Bäume im Sonnenuntergang und bildeten einen Gegensatz zu dem frühlingshaften Grün der Blätter.
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Über dem Eingang befand sich ein vergoldetes Rad mit acht Speichen, das den achtfachen Weg der Erleuchtung darstellte. Zu beiden Seiten der Skulptur erinnerten zwei ebenfalls vergoldete, niedergekauerte Gazellen, dass Buddha seine erste Rede im Gazellenhain gehalten hatte.
Ich betrat das Kloster durch die Halle, die auch als Unterrichtsraum diente. Die Wände bestanden aus unverputzten Ziegelsteinen, die Decke aus Beton. Am Rand befanden sich die Zellen der Mönche, weiter hinten der Speiseraum und die Küche.
Die Bibliothek lag unter dem Dach, der eigentliche Kultraum im Untergeschoss. Junge Mönche erhielten hier den gleichen Unterricht wie an den großen Staatsklöstern Indiens und Nepals.
»Es tut mir Leid«, sagte ich zu Tenzin, »ich musste operieren und konnte nicht früher weg. Und ich musste langsam fahren.«
»Das macht nichts«, erwiderte mein Bruder mit verhaltenem Spott, »wir üben uns in geduldiger Haltung dem Warten gegenüber.«
»Schaffst du es?«
»Nein, manchmal bringt es mich zur Strecke.« Tenzin blinzelte mir zu. »Aber wir streben unermüdlich der Vollendung entgegen.«
Ich lachte. Nicht selten verschreckte Tenzin verunsicherte Europäer, die ihn allzu wörtlich nahmen, mit Ironie. Er führte mich in seine Zelle. Das Fenster war offen, ein eiskalter Wind wehte herein. Ich rieb mir unwillkürlich die Hände. Tenzin trat sofort zum Fenster und schloss es.
»Du frierst«, sagte er überrascht. »Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht. Und ich liebe Gewitter so sehr.«
»Ja, ich weiß.«
Als Kind zitterte er vor Ungeduld, wenn ein Gewitter kam. Er lief nach draußen, tanzte ausgelassen im Wind. Selbst der Regen machte ihm nichts aus.
»Ein heißer Tee wird dir gut tun«, sagte er.
Ich nickte ihm dankbar zu. Wieder einmal fiel mir auf, wie farbenfroh und gemütlich die Zelle eingerichtet war, stets mit dem gleichen heiteren Frieden erfüllt. Von dem kleinen Balkon aus ging der Blick über Wiesen und Hügel. Am Waldrand flatterten neue Gebetsfahnen; es war April, und das Neujahrsfest hatte erst im Februar stattgefunden.
Ich beobachtete Tenzin, wie er den Elektrokocher anschaltete, den kleinen Kessel mit Wasser füllte. Auch Tenzin hatte sich verändert. Seine Haut war brauner geworden, seit er sich –
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mindestens zweimal im Jahr – in Indien aufhielt. Dass mein Bruder ein Rimpoche – eine Wiedergeburt – war, hatte mich nie verwirrt; es entsprach einfach einer Tatsache. Der Dalai Lama kam oft nach Europa, und Tenzin, der fließend englisch und deutsch und seit kurzem auch spanisch sprach, hatte mit PR-Arbeiten eine Menge zu tun. Er war mit zunehmendem Alter nicht fülliger geworden – nein, wir waren alle mager in der Familie –, aber er sah imposanter aus.
Das geschorene Haar betonte seine schöne Kopfform, und seine Augen glänzten jugendlich hinter der randlosen Brille. Ich hatte ihn seit dem Tod meines Vaters – seit drei Monaten – nicht mehr gesehen. Aber jetzt brauchte ich Rat.
Das Wasser kochte. Tenzin hängte zwei Teebeutel in den kleinen Teekessel und wartete geduldig, bis ich zu sprechen begann. Er wusste, dass es nicht einfach sein würde.
»Kunsang«, sagte ich schließlich.
Er nickte.
»Ja?«
»Was soll ich bloß mit ihr machen?«, fragte ich kläglich.
»Sie hat das Gesicht eines Kindes«, Tenzin sprach wie zu sich selbst, »doch sie hat Macht über uns und wird uns allen Leid zufügen. Sie versteht nicht, was sie uns antut. Das erschwert die Sache ungemein.«
Ich sagte bitter:
»Ich glaube, sie mag uns nur dann, wenn wir ihr Geschenke machen. Geschenke bekommt sie gern. Aber Liebe zeigt sich nicht nur in Geschenken.«
»Und in der Schule?«
»Entsetzlich!« Ich seufzte. »Sie ist bald siebzehn und wird im Sommer mit der Schule fertig. Sie verlor ein ganzes Jahr, weil sie erst Deutsch lernen musste. In Nepal sagte die Lehrerin, sie sei hochintelligent. Hier gilt sie als leicht zurückgeblieben.«
»Was tut sie denn gerne?«
»Malen – und sonst fast nichts. Sie könnte es in der Grafik- oder Werbebranche weit bringen, das sagen alle. Aber dazu muss sie in die Kunstgewerbeschule und braucht zumindest einen Realschulabschluss. Leider interessiert es
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