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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Frau am Bachufer stehen. Sie hielt die Hände empor, die Vögel kreischten durcheinander, stürzten sich zu Hunderten auf sie und rissen ihr das Fleisch von den Armen, aus dem Rücken. Sie pickten es weg und legten die Knochen frei, aber die Frau stand ganz ruhig da und ließ es mit sich geschehen. Ich erschrak ganz fürchterlich, bis ich feststellte, dass es ja in Wirklichkeit keine Frau war, sondern eine Vogelscheuche, wie die Bauern sie anfertigen.
    Aber wie seltsam, dass die Vögel sich vor ihr nicht fürchteten, denn sie war ja eigentlich dafür gemacht, sie abzuschrecken! Atan sagte ich nichts davon; ich schämte mich, ihn mit solch dummen Träumen zu belästigen, wo er mir so viele große und wichtige Dinge über die Pferde erzählte! Zum Beispiel, dass die Khampas ihre Stärke und Überlegenheit im Kampf ihren Pferden verdankten. Oh ja, diese Pferde waren so scharfsinnig, dass kein Mensch sie verstehen konnte! Sie waren beharrlich wie Lasttiere, tapfer wie Schneeleoparden und feinspürender als der klügste Hund. Wie konnten sie sonst, ohne ein Wink von Knie, Zügel oder Ferse, vom wilden Galopp zum Stand übergehen, von der Flucht zur Verfolgung, vom listigen Ausbruch zum offenen Angriff?
    »Aber Rongpa ist noch jung«, sagte Atan. »Wir haben noch viel zu lernen.«
    »Du auch?«, fragte ich.
    »Ja, ich auch. Wir lernen gemeinsam. Aber du weißt mehr als ich.«
    Ich war sehr überrascht und ein wenig traurig, dass er das sagte.
    »Du machst dich über mich lustig«, sagte ich vorwurfsvoll. Er erwiderte, das sei durchaus nicht der Fall. Ich sah in seine Augen und 127
    wusste – ohne sagen zu können, woher –, dass er es ehrlich meinte.
    Das machte mich sehr glücklich. Aber die Erinnerung an die Frau ging mir nicht aus dem Sinn. Mein Geheimnis war eine zu große Last für mich. Ich hatte Angst.
    Ein paar Tage später, da geschah es. Wir ritten gemeinsam ins Lager zurück. Es war gegen Abend. Atan hatte mich vor sich auf sein Pferd genommen.
    Die Leute schauten sehr merkwürdig, wenn er das machte, aber er fand nichts Schlimmes dabei. Ich lehnte mich ganz fest an ihn, und er lenkte Rongpa im Schritt. Vor einigen Stunden hatte es geregnet, und der Weg war mit tiefen Hufabdrücken übersät. Jetzt hatten sich die Wolken verzogen. Wir ritten unter blühenden Mandelbäumen; es roch nach feuchtem Gras. Die Vorberge waren grün und golden wie die Saris der Nepalesinnen, und dahinter bildeten die Schneegipfel einen weißen Bogen. Wir kamen an Dörfern vorbei; Kühe kamen von der Tränke heim, die ersten Feuer brannten, und in der Nähe bimmelten Tempelglöckchen. Von irgendwoher drang die wehmütige Stimme einer Frau, die ein Wiegenlied sang. Ich hatte das Lied nie gehört, aber es berührte mich zutiefst, und ich musste an meine Mutter denken. Ich lauschte der Melodie, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Und als das Lied in der Ferne verstummte, sah ich vor uns auf dem Weg eine menschliche Gestalt. Hinter ihr waren die Schattenmuster der Bäume; jedes Blatt hatte eine andere Farbe, und alle Blätter schimmerten auf ihrem Kleid. Aber das Kleid war rot, korallenrot, in Falten gerafft wie ein Königsmantel. Hinter ihr leuchteten die Schneeberge; mir war, als ob die Gestalt im Vordergrund im eigentlichen Mittelpunkt der Welt stand. Zum ersten Mal sah ich sie deutlicher. Ihr Gesicht war oval, die Haut durchscheinend, und ihr Mund hatte die Farbe der Wildkirschen. Das geflochtene Haar fiel weit über die Hüften herab. Schwere Ketten aus Bernsteinkugeln und rautenförmiges Silbergeschmeide funkelten auf ihrer Brust. Ihre Stiefel aus Lammfell waren so kostbar bestickt, dass ich mir sofort die gleichen wünschte. Sie hatte einen mit Pfeilen gefüllten Köcher geschultert und hielt einen Bogen in der Hand. Plötzlich nahm sie mit blitzschneller Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an die Bogensehne und zielte auf mein Herz. Ich fuhr heftig zusammen, schrie: »Nein!« Im selben Augenblick machte Rongpa einen Satz auf die Seite, sein Wiehern klang so laut und schrill, dass es meine Stimme übertönte. Gleichzeitig wich er zurück und bäumte 128
    sich auf. Hätte Atan mich nicht festgehalten, wäre ich aus dem Sattel gekippt. Rongpa drehte sich schnaubend um seine eigene Achse.
    Seine Flanken waren glitschig vor Schweiß. Die verdrehten Augen gaben das von einem rötlichen Adernetz durchzogene Weiß des Augapfels frei. Doch schon verschwand die Gestalt; einen Atemzug lang schien sie in der Luft zu hängen,

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