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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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dann löste sie sich auf, wie ein rötlicher Nebelstreifen. Da erst gelang es Atan, das Pferd zu beruhigen.
    »Was war das?«, hörte ich ihn verwundert murmeln.
    Er hielt mich eng an seine Brust gepresst; mir war, als ob seine Stimme aus meinem Körper kam. Ich wandte den Kopf und sah zu ihm empor.
    »Ich habe eine Frau gesehen.«
    »Eine Frau? Wo?«
    »Da! Vor uns auf dem Weg.«
    Ich spürte, wie er kurz die Luft anhielt.
    »Du hast geträumt.«
    »Nein. Rongpa hat sie auch gesehen.«
    Er ließ ein paar Atemzüge verstreichen, bevor er wissen wollte, wie sie denn ausgesehen hatte.
    Ich sagte ihm, dass sie ein rotes Kleid getragen und das Haar wie die tibetischen Nomadenfrauen in viele Zöpfe geflochten hatte.
    »Sie war mit Pfeil und Bogen bewaffnet und wollte mich töten.«
    »Dich töten?«
    Ich sah auf seine nackten Arme und bemerkte, dass sie mit einer Gänsehaut überzogen waren.
    »Ja. Ich hatte große Angst!«
    Ich hatte sie schon zweimal gesehen, sagte ich. Anfangs hatte ich mich vor ihr gefürchtet, aber nur ein wenig.
    »Sie saß auf dem Pferd und sah mich an. Das war merkwürdig, aber nicht schlimm. Das Schreckliche kam später, am Bachufer, als die Vögel ihr das Fleisch von den Armen rissen und die Knochen freilegten. Ich habe das nicht erfunden, Atan! Es war wirklich so!«
    Da hielt er ruckartig das Pferd an, schwang sich zu Boden und hob mich aus dem Sattel. Er atmete stoßweise. Seine Augen hatten einen starren Glanz und sahen nicht mehr mich, sondern durch mich hindurch. Ich bemerkte mit einem jähen Schock, wie weiß seine Lippen waren. Ich spürte, dass er litt, in einem Maße litt, von dem ich nie zuvor gewusst hatte, dass man es ertragen kann. Wütend zog ich an seinem Ärmel und schüttelte ihn, damit er mich wahrnahm.
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    »Sei mir nicht böse!«, schluchzte ich. »Es tut mir Leid! Vielleicht habe ich das alles nur geträumt!«
    »Nein, das hast du nicht.«
    Er hatte seine Ruhe wieder gewonnen. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, seine Stimme war warm und fest. Er streckte die Hand aus; sie schwebte schattenhaft über mir, bevor er sie auf meinen Kopf legte und mein Haar streichelte.
    »Mach dir nichts draus. Du kannst nichts dafür.«
    Ich zerdrückte meine Tränen mit den Fingern.
    »Dann lebt hier eine solche Frau?«
    Seine Hand umfasste meinen Nacken; sie fühlte sich feucht an und zitterte leicht.
    »Nein, sie lebt nicht mehr.«
    »Hast du sie auch gesehen?«
    »Ja, in Tibet. Vor langer Zeit.«
    »War sie schön wie mein Traum?«
    »Schöner als irgendein Traum.«
    Ich wünschte mir, ich könnte diese Frau malen, um sie Atan zu zeigen.
    »Sie trug wunderschöne Stiefel, ich sah sie ganz deutlich.«
    Ich dachte, er hört mir nicht zu, doch er sagte:
    »Ja, mit roten Stickereien und Glöckchen, nicht wahr!«
    Ich sah ihn erschrocken an. Wie konnte er das wissen? Sein Gesicht war steinern. Doch in seinen Augenwinkeln schimmerte etwas, das ich nie zuvor dort gesehen hatte. Ich drückte seine Hand.
    »Warum weinst du?«
    »Weil ich traurig bin«, antwortete er ruhig.
    Ich zögerte, doch meine Neugierde war stärker.
    »Sag, hast du diese Frau gekannt?«
    Er senkte den Blick auf mich.
    »Sie hieß Shelo«, antwortete er. »Sie war meine Mutter.«
    Er wandte sich ab, kniete am Wegrand, stützte sich mit den Händen auf den Boden und erbrach sich. Er drehte mir den Rücken zu; ich stand abseits und wartete, bis er sich beruhigt hatte. Wie konnte das geschehen, dachte ich fassungslos, dass ich sie sah und er nicht? Der Gedanke löste Angst in mir aus, ich wusste nicht, was ich sagen oder tun konnte. Meine Augen brannten, ich war vollkommen hilflos. Als ich merkte, dass Atan sich beruhigt hatte, ging ich zu dem Pferd, löste die Feldflasche, die am Sattel befestigt war, und reichte sie ihm. Er nahm sie ohne ein Wort, trank in durstigen Zügen.
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    Dann schraubte er die Flasche wieder zu.
    »Ich fühle mich wieder gut«, sagte er.
    »Wie lange ist sie schon tot?«, fragte ich.
    »Schon lange. Ich war so alt wie du, als es geschah. Sie kämpfte gegen die Chinesen«, setzte er nach kurzem Zögern hinzu.
    »Wie?«, fragte ich.
    »Sie hat gesungen. Ich weiß nicht, ob du das verstehst.«
    »Aber natürlich!«
    Er hob den Kopf und lächelte auf einmal.
    »Du verstehst also?«
    Ich spürte, dass er angefüllt war mit Erinnerungen und mit mir reden wollte, aber nicht wusste, wie er beginnen sollte.
    »Ich glaube schon«, sagte ich vorsichtig. »Als ich noch klein war, habe ich ›so tun als ob‹

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