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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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gespielt. Wenn ich singe, ist es dasselbe, nicht wahr? Man glaubt, diese Dinge zu erleben. Und wenn man sehr gut singt und die Leute zuhören, erleben sie es auch. Ich meine…
    man vermischt sich mit den anderen.«
    Er nickte langsam, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    »Es ist tatsächlich, wie du sagst. Die einen sammeln Erzählungen, die anderen Lieder. Aber eine Geschichte erzählt sich Wort für Wort; Melodien haben Flügel.«
    »Deine Mutter… kannte sie alle?«
    »Amla, ja. Sie behielt jedes Lied im Gedächtnis. Oft kam es vor, dass sie Lieder erfand. Das waren die schönsten.«
    Was ich am meisten an Atan liebte, war, dass er mich nie verspottete, nie ungerecht zu mir war. Er sprach ernst und aufrichtig mit mir, wie mit einer Erwachsenen. Ich fühlte, dass er einsam war und unbeschreiblich traurig. Was für eine merkwürdige und völlige Einsamkeit! Es war, als ob er zwei Gedankenwege zugleich verfolgte
    – einen, der mit meinen Gedanken übereinstimmte, und einen anderen, der entsetzlich schmerzvoll dunkel und verborgen war. Ich wollte, ich würde sein Geheimnis kennen, dann könnte ich ihn trösten, und er würde nicht so leiden. Aber ich hörte meine Gedanken einander zuflüstern und mir Dinge sagen, die er mir nicht sagte. Ich wollte mit ihm schlafen, in einem hohlen Baum, ich in seinen Armen, dicht an ihn gepresst, mein Gesicht auf seiner Schulter. Die Vorstellung machte mich glücklich und traurig, beides zugleich, und ich konnte für eine Weile nicht sprechen. Dann sagte ich:
    »Würdest du mir beibringen, wie deine Mutter sang?«
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    Er machte ein finsteres Gesicht.
    »Ich kann nicht singen«, sagte er schroff.
    Ich lächelte, setzte mich auf den Boden und sah zu ihm empor. Er zögerte. Ich wartete ungeduldig. Ich wusste, dass ich ihm Kummer bereitete, aber ich konnte nichts dagegen tun. Schließlich fragte er:
    »Würde es dir Freude machen?«
    »Oh ja, die größte Freude!«
    Er hockte sich nach Art der Nomaden auf die Fersen. Unsere Gesichter waren jetzt fast auf gleicher Höhe. Die Dunkelheit nahm langsam und stetig zu. Auf den Schneegipfeln flammten mohnrote Ebenen auf, eine Felswand färbte sich kupfern, eine andere lila, während das Gebirge im Schatten versank. Für ein paar Augenblicke hörte ich nur das Zischeln des Windes im Buschwerk und den Atem des friedlich grasenden Pferdes. Dann begann Atan mit halb geschlossenen Lippen leise, fast tonlos zu summen. Doch dann wurde seine Stimme lauter, fester; von seinem Lied ging eine so große Kraft aus, dass ich mich ganz nahe zu ihm beugte, um auch nicht einen Ton zu verlieren. Die Melodie war die schönste, die ich jemals gehört hatte. So stark, so machtvoll! Ich war weit weg, ich fühlte mich hoch in die Lüfte gehoben, bis zu den Wolken, bis zu den ersten Sternen, auf den Schwingen dieses Liedes. Und dort, wo die letzten Sonnenstrahlen glühten, glaubte ich plötzlich eine brennende Stadt zu sehen, und eine Frau, die auf einem Turm stand.
    Ich wusste, sie war es, Shelo, die Sängerin! Und gleichzeitig wusste ich, dass dieses Lied sie weckte, sie sichtbar machte. Wie viel war dies schon! Aber es war immer noch nicht genug! Ich wollte, dass das Lied an Stärke gewann, dass es an meinen Ohren vorbeiglitt wie der Wind, lauter, noch lauter! Ich wollte sie besser sehen, sie deutlicher hören, aber Atan schaffte es nicht. Er hatte nicht die Kraft, sie kommen zu lassen. Er hatte Angst. Aber warum denn nur? Dann fehlten ihm die Worte, das Bild wurde blasser, verlor sich im Schatten. Die Stadt mit ihren tausend Flammen blinkte ein letztes Mal auf und verschwand. Das Ende des Liedes, das Ende des Tages.
    Alles wurde dunkel. Das Hochtal nahm die Farbe grauer Asche an.
    Atan verstummte so plötzlich, dass ich eine fast unerträgliche Leere verspürte. Da erst merkte ich, dass er in einer Sprache gesungen hatte, die mir unbekannt war. Ich holte zitternd Atem. Was ich zu sagen hatte, war ein großes Wagnis, denn es konnte sein, dass er mich wegstieß, mir nie wieder einen Blick schenkte. Aber ich musste reden, auf der Stelle, sonst würde ich nie wieder den Mut 132
    dazu aufbringen.
    »Ich habe das Lied nie gehört«, begann ich. »War das tibetisch?«
    »Es ist eine Geheimsprache«, erwiderte Atan. In der Dunkelheit war sein Gesicht nur ein schwarzer Schatten. »Wir nennen diese Sprache ›die Sprache der Feen‹.«
    »Wenn du mir die Worte sagst, lerne ich das Lied auswendig.
    Und hole sie für dich herbei.«
    Er saß ganz ruhig; ich sah das Weiße

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