Die Tochter der Tibeterin
Haltestelle, schnallte ihren Rucksack auf. Sie beugte sich nach hinten, dann nach vorn, und zog die Gurte straff, wobei sie ihr Gesicht zu mir emporhob.
»Das wäre schön«, sagte sie. »Aber Sie wissen ja, die Zukunft hat nicht unbedingt etwas mit der Hoffnung zu tun…«
Ich winkte, angetan von ihrer Persönlichkeit, etwas wehmütig zurück. Ich kannte sie erst seit ein paar Stunden, aber ich empfand fast so etwas wie Freundschaft für sie, ein zartes, sicheres Gefühl.
Wie jeder Verlust einer Freundschaft hinterließ sie in mir ein Gefühl von Einsamkeit. Und in Bezug auf Bay-Yi hatte sie auch recht; mit dem Unterschied, dass mir die Stadt nicht seltsam, sondern nur unendlich deprimierend vorkam.
Nie hatte ich etwas Trostloseres gesehen als diese öde Betonlandschaft, diesen versandeten, gelblichgrauen Fluss, diese baumlosen Straßen. Militärfahrzeuge verrosteten vor dürftigen Werkstätten, Radfahrer strampelten in dunklen Schwärmen. Durch das offene Fenster drangen Abgase und Benzingeruch, der warme Sommerwind wirbelte braune Staubwolken auf. Die Farben des Himmels, der zitronengelbe Sonnenschein boten vergeblich alle Kraft auf, um so viel Hässlichkeit zu tilgen. Endlich verließen wir diesen Ort – ich hätte es keine fünf Minuten mehr ausgehalten. Die Hitze im Bus nahm zu; mir war, als bekäme ich keine Luft mehr.
Das ständige Rumpeln und Schütteln machte mich apathisch. Ich suchte in der Phantasie eine Flucht vor dem, was ich sah, aber da war nichts, nur eine Abbruchsteile der Gefühle, eine Benommenheit, die mich würgte. Endlich stieg die Straße an, das Licht wurde klarer. Der Himmel leuchtete seidenblau. Hinter einem Meer von Hügeln tauchte, wie eine Erscheinung, ein Schneegipfel auf. Im Tal wuchsen Ahornbäume, Heidekraut flammte violettrot, wie von einem inneren Licht erleuchtet. Ein Wasserlauf glitzerte, quirlte und sprudelte.
Sanfte grüne Hügel wölbten sich aus dem Wald, Zweige bebten im Wind, doch als sich das Tal weitete, wurden die ersten Anzeichen von Abholzung sichtbar. Die üppige Pracht war plötzlich verschwunden. Ganze Hänge waren kahl und rotbraun, scharf aufgerissen, noch blutend. Die Zerstörung des Waldes hatte Erdrutsche zur Folge, die als Staub oder Kies herunterregneten oder als schwere Blöcke ins Tal polterten. Die Erdmassen hatten den Bach mit riesigen mitgerissenen Baumstämmen versperrt. Das Wasser wirbelte in bräunlichen Strudeln, weiter unten teilte ein 175
Gewirr von Treibholz und verschlammtem Gestein den Fluss in einzelne Tümpel. Im nächsten Tal waren die staatlichen Holzfällereinheiten noch an der Arbeit; eine große Zahl wundervoller Fichten war bereits gefällt. Die runden Baumstümpfe ragten aus der Erde, die Schnittflächen klafften wie frische Wunden.
Wann hatte er begonnen, dieser Krieg zwischen Menschen und Natur? Wann würde er vorbei sein? Und wer würde ihn gewinnen?
Die Männer, die hier arbeiteten, wirkten so lächerlich klein, so unbedeutend. Sie trugen Schutzkleidung und Helme mit Augenschutz. Maschinen zum Entästen der Stämme kreischten. Das Geräusch war durch das offene Fenster zu hören. Hunderte von Stämmen waren zum Abtransport bereit. Auf der frisch geteerten Straße standen Schlepper, schon beladen.
Die Mitreisenden schwiegen; manche dösten vor sich hin, andere blickten gleichgültig nach draußen. Einige lachten und schwatzten unbekümmert. Für sie musste das ein gewohnter Anblick sein, seit Jahrzehnten schon. Ich fühlte mich unendlich traurig.
Wir übernachteten in einem staatlichen Gasthaus. Der Wind hatte Sand in die Zimmer geblasen, einen rötlichen Puder, der in alle Ritzen drang, zwischen den Zähnen knirschte und die Schleimhäute reizte. Im Gemeinschaftsraum für Frauen hatte jede ein schmales, eisernes Soldatenbett mit bezogener Matratze und einer dünnen Armee-Wolldecke. Eine nackte Glühbirne spendete trübes Licht.
Meine Sachen waren verschwitzt, doch es war zu kalt, um mich umzuziehen. Ich wusch mir im Hof Gesicht und Hände und kroch angezogen unter die schmutzige Decke. Es dauerte lange, bis ich etwas wärmer wurde und das Schwatzen und Lachen der Frauen verebbte. Endlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem mich Lautsprecher aufschreckten, die an jeder Straßenecke Marschmusik schmetterten, während eine muntere Frauenstimme dem fleißigen Ameisenvolk einen guten Morgen wünschte.
Der Bus kam mit zwei Stunden Verspätung. Alle warteten gelassen; es war absurd, Ungeduld zu zeigen. Frauen wollten
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