Die Tochter der Tibeterin
Vernunft nichts anderes, als sich schlafend zu stellen. Und ist es erlaubt, einen Menschen gegen seinen Willen in Schutz zu nehmen? Wir müssen etwas haben – alte Lieder, meinetwegen, die uns Mut geben, damit wir uns von dem ganzen Quatsch, der geredet wird, nicht einschüchtern lassen. Solche Lieder retten uns vor der Verzweiflung.
Sie zerreißen unsere Ketten und schenken uns die Illusion der Freiheit. Wieviel ist das schon? Aber wir wollen mehr!«
Ich verlor allmählich die Geduld.
»Ja, ja, aber für Kunsang ist es sehr gefährlich!«
Er saß vor mir, reglos wie eine Statue. Nur seine Augen leuchteten und seine fahlen Lippen bewegten sich.
»Als Kind beobachtete ich oft, wie die Nomaden jagten. Ihre Hunde trieben ihnen das Wild zu. Doch für einen Fremden hätten es diese Hunde nicht getan, und allein würden sie nur kleines Wild jagen. Weil es aber die Hunde der Nomaden waren, kannten sie deren Absicht. Nun, wenn der Mensch für den Hund etwas Unbegreifbares darstellen kann, dem er gehorcht, müssen wir zwangsläufig damit rechnen, dass es uns Menschen mit den Gottheiten ebenso geht. Sie geben uns einen Auftrag, den wir zu erfüllen haben.«
»Auch, wenn wir uns dadurch in Gefahr bringen?«
»Auch dann. Aber im Gegensatz zum Tier steht es uns frei, unsere Zustimmung zu geben oder nicht. Wir können uns vor der Konfrontation drücken, und die Götter tragen uns nichts nach.«
Im Augenblick war ich ziemlich schockiert. Es war etwas von der zu großen Einfachheit des Fanatikers in seinen Worten. Dann fiel mir ein, was dieser Mensch erduldet und erlitten hatte, und der Graben zwischen ihm und mir schloss sich wieder. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Ich war um Kunsang besorgt, wollte nicht, dass sie in die Hände der chinesischen Polizei fiel. Ich musste sie da rausholen, aber allein würde ich es nicht schaffen. Alles in allem konnte es für Kunsang nur eine Art Abenteuer sein, für das sie als junger Mensch natürlich empfänglich war.
Ich holte gequält Luft.
»Wo ist Atan jetzt? Wie komme ich zu ihm?«
»Er hat ein Haus in Lithang, aber er ist nur im Winter dort anzutreffen. Vom Frühling bis zum Herbst wandert er mit den 200
Tieren. Die Viehzucht ist eine Kunst, oh ja, aber da kennt er sich aus.
Die Strecke ist nicht weit, aber es gibt nur Wege. Nun, Sie haben Glück: Einer unserer Mönche will zu einer kranken Mutter. Sie können mit ihm fahren. Dorjes Mutter wohnt in Gongka-Shar, an der Straße der Dämonen.«
Der volkstümliche Ausdruck war mir bekannt. Der Überlieferung zufolge gingen die Dämonen niemals im Zickzack, immer nur den geraden Weg. Deswegen hatten die Tibeter dem von den Chinesen gebauten Straßennetz diesen Namen gegeben. Atan hatte mir es damals erklärt, und wie hatten wir darüber gelacht!
Ich musste mich auf Atan verlassen, anders ging es nicht. Hier, in Lithang, war ich ihm sehr nahe. Ich konnte seine Gegenwart spüren wie einen Stromschlag, der sich schwach auf mich übertrug, eine Vibration, die von seiner Lebenskraft erfüllt war. Das war es gewesen, was ich damals mit solcher Gewalt gespürt hatte, als seine und meine Hände sich zum ersten Mal fanden. Ich wusste, dass ich viel Kraft brauchen würde; und ich wusste auch, dass Atan meiner Kraft noch mehr bedürfen würde als ich selbst; doch auf einmal merkte ich, wie diese Kraft mich schmerzhaft verließ. Ich fühlte mich schwach und ausgelaugt. Ich wollte noch etwas sitzen bleiben, mehr Klarheit in meine Gedanken bringen. Aber ich durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Und es gab noch eine Frage, die ich stellen musste. »Hat Kunsang die Fähigkeit, die Träume anderer zu erleben? Sie in allen Einzelheiten zu sehen… und sie dann sichtbar zu machen?«
Ich zögerte. Der heilige Lama wartete ruhig, dass ich weitersprach.
»… diese Sache, meine ich… Ist sie ihr von den Göttern gegeben?«
Er antwortete, kummervoll und mit großer Milde:
»Ja, meine Tochter.«
201
21. Kapitel
I ch hatte schon einige seltsame Erfahrungen hinter mir. Ein besonders eigenartiges Erlebnis jedoch war, hinter einem Mönch auf einem Motorrad querfeldein durch das Hochland von Kham zu brausen. Der Besitzer der Maschine nahm alle Hindernisse im direkten Ansturm. Seine scharlachrote Robe flatterte im Wind, er beugte sich tief über das Fahrzeug, und seine kräftigen Arme lenkten die klapprige Maschine wie seine Vorfahren, die Hirtennomaden, ihre wild galoppierenden Pferde. »Ich kann fahren, Sie brauchen keine Angst zu haben!«,
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