Die Tochter der Wälder
an ihm vorbei wie Blätter im Wind. Wenn die Angst ihre schlimmsten Phasen erreichte, ließ er es zu, dass ich die Arme um ihn legte und ihm Schlaflieder sang und übers Haar strich, als wäre er ein verängstigtes Kind. Endlich schlief er dann wieder ein, und Erschöpfung überwältigte mich, die ich noch an seinem Bett saß, so dass ich schlief, wo ich war, den Kopf auf dem Strohsack, meine Hand in seiner. Dies dauerte allerdings nicht lange. Er erwachte vier- oder fünfmal in einer Nacht; die Versuchung, ihm etwas Wirksameres zu geben, damit wir eine ganze Nacht Ruhe hatten, war stark, aber ich wusste, dass der Weg zu seiner Gesundung darin lag, den Körper zu läutern und mit der Angst leben zu lernen. Denn die Erinnerungen würden in der einen oder anderen Verkleidung immer bei ihm sein.
Er ließ Vater Brien nicht in seine Nähe. Es war ich, nur ich, die alles tun musste, sofort aufwachen, ihn trösten und beruhigen, die Wunden säubern und verbinden und mich um Simons sämtliche Bedürfnisse kümmern. Das war schwierig, aber so war unsere Übereinkunft. Dennoch, nachts ließ Vater Brien uns nie allein. Er saß in der äußeren Kammer, eine Kerze neben sich, und wartete, bis der Segen des Schlafs wieder kam. Seine lautlose Gegenwart war tröstlich, denn ich stellte fest, dass die Dämonen der Nacht eine große Herausforderung waren.
Es gab Zeiten, an denen ich Simon hasste, obwohl ich nicht hätte sagen können, warum. Ich nehme an, ich wusste, dass nach diesen Tagen nichts mehr für mich dasselbe sein würde. Und ich war immerhin noch nicht einmal dreizehn, und ich musste immer wieder daran denken, wie schön es doch wäre, zu Hause zu sein, mit Padraic zusammen auszureiten oder Krokusknollen für das Frühjahr zu pflanzen. Ich sehnte mich danach, in meinem kleinen Garten zu arbeiten, der so still und ordentlich war, so voll frischer Düfte und gesunder, wachsender Dinge.
Nach acht oder neun solcher Nächte sahen Vater Brien und ich aus wie Gespenster, bleich und erschöpft. Dann kam ein Tag, an dem die Sonne früher herauskam und die Luft ein wenig wärmer wurde, und ich brachte Simon dazu, aufzustehen und hinauszugehen, weiter zu gehen als üblich, so dass wir hoch genug kamen, um über die Bäume hinwegzuschauen und einen Blick auf das silberne Wasser des Sees zu erhaschen, der tief in den graugrünen Schatten des Waldes lag.
»Unser Zuhause ist da unten«, sagte ich ihm, »ganz nah am Seeufer, aber es ist unter den Bäumen verborgen. Auf dieser Seite hier zieht sich der Wald bis zum Ufer. Es gibt Wege durch den Wald, jeder von ihnen anders.«
»Dort würde man sich leicht verlaufen.«
»Wir nicht«, sagte ich. »Aber es passiert, wenn Leute sich nicht auskennen.« Ich dachte zum ersten Mal darüber nach. Wie kam es, dass wir immer den Weg wussten? Simon lehnte sich gegen den Stamm einer kahlen Esche und schloss die Augen. »Ich habe eine Geschichte für dich«, sagte er und überraschte mich damit gewaltig. »Ich habe nicht deine Begabung zum Erzählen, aber es ist eine recht einfache Geschichte.«
»Also gut«, sagte ich, ein wenig misstrauisch.
»Es waren einmal zwei Brüder«, begann Simon, und seine Stimme war flach und ausdruckslos. »Äußerlich waren sie sich recht ähnlich, auch was die Kraft und die Intelligenz anging; aber der eine hatte dem anderen ein paar Jahre voraus. Seltsam, was für einen Unterschied ein paar Jahre machen können! Ihr Vater starb, und wegen dieser paar Jahre erbte der ältere Bruder das ganze Anwesen. Und der andere? Er bekam nur ein kleines Stück Land, das sonst keiner wollte. Der Ältere war bei allen beliebt; er hatte diese wenigen Jahre voraus, um Anspruch auf ihre Herzen zu erheben und die Loyalität der Menschen zu erwerben, und das tat er, ohne auch nur einen Augenblick an seinen Bruder zu denken. Und der Jüngere? Obwohl er ebenso gut, begabt und stark war wie sein Bruder, schien es niemand zu wissen.
Der Ältere war ein Anführer, und seine Männer blickten zu ihm auf und achteten ihn. Er war unfähig, sich zu irren, und wohin er auch kam, brachte man ihm vollkommene Loyalität entgegen, ohne dass er sich darum bemühen musste. Der Jüngere? Er tat sein Bestes, aber es war nie gut genug.« Simon schwieg, als wolle er nicht fortfahren.
»Und was ist dann passiert?« fragte ich schließlich.
Simon verzog den Mund zu etwas, was ein Grinsen hätte sein können, wäre nicht die Kälte seines Blicks gewesen. »Der Jüngere erhielt eine Gelegenheit, sich zu
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