Die Tochter der Wälder
zerbrechlich, die letzte Spur des Sommers glitt aus ihren Körpern. Beeren rot wie Blut. Er beobachtete mich.
»Sorcha«, sagte er nach einer Weile, und es war das erste Mal, dass er meinen Namen benutzte, statt mich als ›Hexe‹ oder schlimmeres anzusprechen. »Wie kannst du an diese Geschichten glauben? Riesen und Feen und Ungeheuer. Das sind Kinderträume.«
»Einige sind vielleicht wahr und andere nicht«, sagte ich, zog ein lang gezogenes, spitzes Blatt unter dem Kranz hindurch und noch einmal herum. »Ist das wichtig?«
Er stand auf, und ich hörte die Veränderung in seinem Atem, als er einen gequälten Aufschrei unterdrückte.
»Nichts im Leben ist so wie in deinen Geschichten«, sagte er. »Du lebst hier in deiner eigenen, kleinen Welt; du hast keine Ahnung, was es außerhalb davon gibt. Ich wünschte …« Er hielt inne.
»Du wünschst was?« fragte ich, als er nicht fortfuhr.
»Ich wünschte beinahe, dass du es nie entdecken wirst«, sagte er mit dem Rücken zu mir.
»Denkst du nicht, dass ich schon damit begonnen habe?« Ich stand auf, den kleinen Kranz in einer Hand. »Ich habe gesehen, was sie dir angetan haben. Ich habe gehört, wie du um Hilfe riefst. Und du hast mir selbst solche Geschichten von Grausamkeit erzählt, dass ich dir glauben muss, dass sie wahr sind. Du hast mich nicht gerade geschont.«
»Du hast diese Welt mit deinen Geschichten ausgeschlossen.«
»Nicht vollständig«, sagte ich, als wir uns langsam wieder auf den Rückweg machten. »Nicht um deinetwillen oder um meinetwillen. Die Geschichten machen es etwas einfacher, das ist alles. Aber du wirst schließlich darüber sprechen müssen, wenn du gesund werden und nach Hause zurückkehren willst.«
Vater Brien hatte ihm einen kräftigen Stock aus Eschenholz gegeben, und er benutzte ihn zum Gehen; er zögerte immer noch häufig, aber nun bewegte er sich oft ohne meine Hilfe. Hier war der Weg dick mit Laub bedeckt, und das wirre Netz kahler Äste ließ kaltes Licht hindurchfallen, das sie mit Gold und Silber überzog. Linn war begeistert, grub hier, schnüffelte da. Ein Vogel rief; ein anderer antwortete.
»Werde ich je wieder schlafen können?« fragte er plötzlich. Meine Antwort war vorsichtig; ich hatte jene gesehen, die das Feenvolk geholt hatte, und wie ihr Wahnsinn sie weder bei Tag noch bei Nacht vollständig verließ, wie der Strudel ihrer Erinnerungen tief im Kopf ihnen keinen Frieden gab.
»Es könnte lange dauern«, sagte ich sanft. »Du hast einige Fortschritte gemacht; aber ich will dich nicht belügen. Solche Schäden heilen nicht einfach. Du wirst dein eigener bester Helfer sein, wenn du den richtigen Weg wählst.«
***
Simons Körper heilte. Er war jung und stark und widerstandsfähig. Nach einiger Zeit konnte er ohne Stock gehen, und er wechselte erste Worte mit Vater Brien, beinahe ohne es zu bemerken. Ich begrüßte jeden kleinen Sieg voller Freude. Ein freundliches Wort, ein Versuch, etwas Neues zu tun, ein spontanes Lächeln – all das waren unersetzliche Geschenke. Sobald der Heilungsprozess erst begonnen hatte, wurde er schneller, und ich fing an zu glauben, dass wir ihn irgendwann tatsächlich zu seinen Leuten zurückschicken könnten.
Es war allerdings klar, dass er unsere Obhut noch nicht verlassen konnte. Das Spätherbstwetter wurde unangenehmer, die Nächte wurden länger und kälter. Und Simon konnte die Dämonen, die ihn im Dunkeln bedrängten, noch nicht abschütteln. Wieder und wieder suchten seine Folterer ihn heim, und er kämpfte gegen sie oder floh vor ihnen oder ergab sich ihnen. Eines Nachts schlug er mir ein blaues Auge, als er im Halbschlaf aus dem Bett stieg und versuchte, in die Nacht hinaus zu fliehen. Vater Brien und ich konnten ihn aufhalten, aber er schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht. Am Morgen konnte er nicht glauben, dass er das getan hatte. Ein anderes Mal erwachte er vor mir, plötzlich und voller Angst, aber diesmal schweigend; und er hatte schon das Messer in der Hand und gegen sich gewandt, bevor ich es merkte. Ich weiß nicht, wie ich mich so schnell bewegen konnte, aber ich hielt ihn am Handgelenk und klammerte mich an ihn und schrie nach Vater Brien, und zusammen versuchten wir, ihn zu beruhigen, während er weinte und tobte und uns anflehte, ihn zu töten und ihm endlich ein Ende zu machen. Und langsam, langsam sprach ich zu ihm und sang ihm vor, bis er ruhig wurde und beinahe schlief, aber nicht ganz. Er hatte aufgehört zu sprechen, aber seine Augen
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