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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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beweisen. Etwas zu tun, das jeder, selbst sein Bruder, hätte anerkennen müssen. Danach, dachte er, werde ich genauso sein wie er, ebenso gut wie er, vielleicht sogar besser. Er versuchte es und versagte.«
    »Und was dann?«
    »Das weiß ich nicht, kleine Hexe. Diese Geschichte hat offenbar kein Ende. Wie würdest du sie beenden?« Vorsichtig ließ er sich auf den Boden nieder.
    Ich rutschte zur Seite, um ihm auf einem abgerissenen Ast Platz zu machen. Linn war ganz in ihrem Element, schnüffelte in den Herbstblättern herum, schoss hierhin und dahin und kam zurück, um hin und wieder nach uns zu sehen.
    Ich wählte meine Worte sorgfältig. »Es klingt wie eine Lehrgeschichte, obwohl es normalerweise darin drei Brüder gibt, nicht nur zwei. Ich denke, der jüngere Bruder hat sich in die Welt aufgemacht, um sein Glück zu suchen, und den großen Bruder zurückgelassen. Auf dem Weg begegnete er drei Leuten oder Geschöpfen – es sind für gewöhnlich immer drei.«
    »Du hast auf alles eine Antwort«, meinte Simon betrübt. »Erzähl mir den Rest.«
    »Nun, man kann die Geschichte auf verschiedene Weise beenden«, meinte ich und wurde langsam vertrauter mit der Aufgabe.
    »Sagen wir, der jüngere Bruder begegnet einer alten Frau. Er hat Hunger, und er hat nur einen Haferkuchen, aber er gibt ihn ihr. Sie bedankt sich, und er zieht weiter. Vielleicht sieht er als Nächstes ein Kaninchen in einer Schlinge und befreit es.«
    »Wahrscheinlich wird er es eher häuten und essen«, meinte Simon. »Besonders, da er jetzt keinen Haferkuchen mehr hat.«
    »Aber dieses Kaninchen sieht ihn aus so schönen grünen Augen an«, sagte ich. »Er muss es einfach gehen lassen. Zum Schluss begegnet er einem Riesen. Der Riese fordert ihn zu einem Stockkampf heraus. Der junge Mann stimmt zu, denn er glaubt, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Sie kämpfen eine Weile, und es gelingen ihm ein paar gute Schläge, bevor der Riese ihn bewusstlos schlägt. Als er wieder zu sich kommt, dankt der Riese ihm höflich für diesen Kampf; von all den Reisenden, die vorbeikamen, war er der Erste, der es wagte, stehen zu bleiben und diesem Riesen ein wenig Unterhaltung zu verschaffen. Danach kommt der Riese als eine Art Leibwächter mit ihm.«
    »Praktisch«, sagte Simon. »Was dann?«
    »Dann gibt es ein Schloss und eine Dame darin«, sagte ich, sammelte ein paar trockene Blätter und Beeren und begann zerstreut, sie ineinander zu flechten. »Er sieht sie von weitem, vielleicht reitet sie an ihm vorbei, während er und sein Riesenfreund sich die Straße entlangschleppen, und sobald er sie sieht, verliebt er sich in sie und will sie haben. Aber es gibt ein Problem. Um sie zu bekommen, muss er eine Aufgabe erfüllen.«
    »Oder vielleicht auch drei.«
    Ich nickte. »Das ist verbreiteter. Und hier helfen ihm seine guten Taten der Vergangenheit. Vielleicht muss er einen riesigen Stall vor Sonnenaufgang ausmisten, und die alte Frau taucht auf und erledigt es mit einem magischen Besen innerhalb eines Augenblicks. Vielleicht muss er einen Gegenstand, einen goldenen Ball, aus einem tiefen, engen Ort holen, aus einem langen Tunnel unter der Erde. Das könnte das Kaninchen für ihn tun. Das Letzte wäre ein Kräftemessen, und hier macht sich der Riese nützlich. Also gewinnt unser Held die Dame, und danach leben sie glücklich bis an ihr Ende.«
    »Und was ist mit seinem Bruder?«
    »Mit ihm? Nun, bis der jüngere Bruder all seine Abenteuer hinter sich und das Herz der Dame gewonnen hat, hat er seinen großen Bruder und seine Eifersucht vollkommen vergessen. Er führt sein eigenes Leben.«
    »Das Ende gefällt mir nicht«, sagte Simon. »Such ein anderes.«
    Ich dachte einen Augenblick lang nach. »Was, wenn er in den Krieg zog und zurückkam und feststellte, dass sein Bruder inzwischen gestorben war und er das ganze Land erbt?«
    Simon lachte, und die Verbissenheit in diesem Lachen gefiel mir nicht. »Wie wäre ihm dann zumute?«
    »Ich nehme an, er wäre ziemlich durcheinander. Er würde bekommen, was er sich immer gewünscht hat – den Platz seines Bruders. Aber er wird ewig über die Jahre nachdenken, die er damit verschwendet hat, seinen Bruder zu beneiden, statt ihn kennen zu lernen.«
    »Sein Bruder war nicht daran interessiert«, meinte Simon tonlos, und ich befürchtete, ihm zu nahe gekommen zu sein. Ich konzentrierte mich auf den Kranz, den ich wob. Blätter in Rottönen von tiefstem Braun und goldgelb. Ein paar von ihnen waren schon recht

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