Die Tochter der Wälder
kletterte, und endlich kam ich zur Höhle des Eremiten.
Der Tag war warm und sonnig geworden. Es war Nachmittag; ich hatte den Weg rasch und um einen hohen Preis zurückgelegt, denn ich war nun schwindelig und atemlos, alles tat mir weh. Es war Linn, die die dunkle Gestalt als Erste sah, die Gestalt einer hochgewachsenen Frau, die ruhig auf der Bank unter den Ebereschen saß, ihr langes, schwarzes Haar über den Rücken fallend. Ihr langer Mantel war vom Blau weitentfernter Berge in der Abenddämmerung. Der Hund hielt inne, ging dann mit zögernd wedelndem Schwanz langsam weiter. Die Frau streckte die Hand aus.
»Komm her, Tochter des Waldes.« Ihre Stimme war tief und wohlklingend. Ich regte mich nicht. Linn ergab sich den streichelnden Fingern; auch sie war müde von unserer kopflosen Flucht, leckte die Hand der Frau noch kurz und eilte dann zum Wassertrog, um in langen, durstigen Schlucken zu trinken.
»Komm her, Sorcha. Kennst du mich nicht mehr?« Sie machte ihrerseits keinen Versuch, auf mich zuzugehen. Ich hob die Hand, um mir die Nase zu wischen. Wo war Vater Brien?
»Komm, Kind, du hast mich in der Zeit der Not gerufen. Jetzt bin ich hier und werde dir helfen.«
Da stieg Zorn in mir auf, und endlich trat ich vor sie und stellte mich dem Blick ihrer dunkelblauen Augen.
»Du bist nicht gekommen! Wir haben dich gerufen, wir alle – und nun sind meine Brüder … meine Brüder sind weg … und sie sagte, ihr wäret ein und dasselbe, es sei sie gewesen, die wir gerufen haben.« Ich konnte die Bilder nicht aus meinem Geist verbannen, diese Veränderung von Mann zu Schwan, und die schreckliche Leere, als mir ihre Gedanken entglitten. »Woher soll ich wissen, welcher von euch ich glauben kann?«
Sie warf mir einen forschenden Blick zu. »Die von ihrer Art werden dir immer sagen, dass es kein Schwarz und kein Weiß gibt, nur Schatten. Dass alles falsch oder richtig sein kann, dass gut und schlecht zwei Seiten derselben Münze sind. Glaube ihr, wenn du willst. Vielleicht sagt sie die Wahrheit, und ich sage dir etwas Falsches. Das musst du selbst entscheiden.«
»Es gibt keine Wahl mehr«, jammerte ich. »Sie hat sie mitgenommen, sie hat sie verändert, und nun sind sie weg! Was kann ich denn tun, als mich zu verstecken und allein zu bleiben? Sie sagte, sie würde mich finden, ich kann nicht hier bleiben, ich muss Vater Brien finden …«
»Still«, sagte sie, hob die Hand, und ich schwieg tatsächlich und schnappte schaudernd nach Luft. »Diesmal kann er nicht helfen. Hör zu.«
Ich hörte zu und war plötzlich erschrocken über die Abwesenheit jeden Geräuschs. Selbst die Insekten hatten offenbar aufgehört zu zirpen und zu summen. Kein Laut mehr erklang. »Es ist die Stille des Schlafs, des Abschieds. Er ist hier, aber er ist nicht hier.«
»Wie meinst du das?« Ich hatte nicht geglaubt, noch etwas empfinden zu können, aber bei ihren Worten wurde mir kalt.
»Es ist nur wenig Zeit«, sagte sie, stand auf, und nun konnte ich die Macht ihrer Gegenwart spüren, wie bereits einmal zuvor an diesem Ort; es war, als befände sich hier das Herz des ganzen Waldes. »Du musst zuhören, und zwar gut. Denn du hast tatsächlich eine Wahl. Du kannst fliehen und dich verstecken und warten, bis man dich findet. Du kannst deine Tage in Schrecken und ohne Bedeutung verbringen. Oder du kannst den schwierigeren Weg wählen und sie retten.«
Ich starrte sie an. Linn war fertig mit Trinken und legte sich jetzt in die Sonne.
»Sie retten?« flüsterte ich nach einer Weile. »Du meinst – dieser Bann kann irgendwie rückgängig gemacht werden?«
»Ja«, sagte sie, »aber es wird nicht leicht sein. Du bist die einzige, die das erreichen kann, und daher musst du ganz vorsichtig sein, denn sie befürchtet das und wird versuchen, dich zu finden und dich aufzuhalten. Die Warnung deiner Brüder hat dich gerettet, aber sich selbst konnten sie nicht mehr retten. Nur du kannst das tun.«
»Aber sie hat ihnen gesagt – sie sagte: Es gibt kein Mittel dagegen, ich konnte ihre Worte hören wie ein Todesurteil.«
»Sie wollte, dass sie keine Hoffnung haben und immer glauben, versagt zu haben, nicht nur sich selbst nicht mehr gerettet zu haben, sondern dich und ihren Vater ebenfalls nicht schützen zu können. Ohne Hoffnung werden sie verwundbar und weniger in der Lage sein, zu überleben. Das glaubt sie zumindest.«
»Das ist grausam«, sagte ich. »Wieso tut sie so etwas?«
»Es liegt in ihrem Wesen«, sagte sie ruhig. »Sie
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