Die Tochter der Wälder
letzten Mal gesehen hatte, war er vom Jungen zum Mann geworden. Er hatte dieselbe gerade Nase und das feste Kinn wie sein Bruder, aber der Mund war großzügiger, der Blick weniger wachsam. Er hatte keine Narben an Hals, Ohren oder den muskulösen Armen, wo er das Hemd über die Ellbogen hochgerollt hatte. Und dennoch, wie konnte das sein? Erinnerte er sich an gar nichts? Ich warf meinen Brüdern einen Blick zu. Sie konzentrierten sich auf die Worte des Priesters, und nichts wies darauf hin, dass sie ihn erkannten. Das war gut so. Simons leuchtende Augen waren so unschuldig wie die eines Kindes, seine Miene ganz und gar harmlos.
»Simon«, sagte Lady Anne, »das hier ist Sorcha, von der ich dir erzählt habe. Sorcha ist … ist …«
»Die Frau des Roten.« Simon spähte an seiner Mutter vorbei und sah mir direkt in die Augen. Ich sah, wie seine Miene sich veränderte. Auch er hatte eine Maske getragen, und einen Augenblick lang ließ er sie fallen, und ich wusste, was immer er vergessen haben mochte, mich hatte er nicht vergessen.
»Sorcha. Der Name passt zu dir«, sagte er leise. »Ich hätte nicht geglaubt, dass mein Bruder eine Frau aus Eire heiraten würde.«
»Es war nicht … er hat nicht …« Mein Herz klopfte heftig. Er kannte mich, da war ich sicher. Und wenn er sich an mich erinnerte, erinnerte er sich auch an meine Brüder und … aber wie konnte er dann dort stehen und lächeln? Wo war der unruhige, verstörte Junge, den ich mit aller Anstrengung versucht hatte zu pflegen? Der Junge ohne Hoffnung, der sich an meine Geschichten klammerte, um durch den Alptraum von Schmerz und Schande zu kommen? Und wieso hatte dieser Mann keine Narben?
»Du hast heute Abend etwas Erstaunliches vollbracht«, fuhr Simon fort. »Es übersteigt das Fassungsvermögen unseres Volkes beinahe, dass eine solche Verwandlung möglich sein soll. Im Augenblick staunen sie noch; morgen werden sie es als einen Trick abtun, und andere werden es nur als eine Geschichte für ihre Enkel betrachten. Und dann gibt es einige, fürchte ich, die wieder anfangen, über Zauberei nachzudenken.«
»Du brauchst nicht um deinen Bruder zu fürchten«, sagte ich mit einiger Schwierigkeit. »Ich werde nicht hier bleiben und ihn belasten. Wir hatten … wir hatten eine Übereinkunft …«
»Interessant«, sagte er leise. »Und was für eine Übereinkunft war das?«
Ich wurde von Vater Dominic gerettet, der sich nun erhob und zu mir kam. Lady Anne, glühend vor Glück über die Rückkehr ihres Sohnes, hatte kaum zugehört.
»Junge Frau«, sagte der Priester, »deine Brüder haben mir einiges von deiner seltsamen Geschichte erzählt. Komm, setz dich zu mir und trink einen Schluck Wein. Du siehst immer noch blass aus; du hast dich von dieser Prüfung noch nicht erholt.«
Ich setzte mich hin, und sofort schlossen meine Brüder ihre Reihen um mich, so dass der schützende Kreis wieder vollendet war. Diarmid beobachtete Simon, und seine Miene sagte: Der einzige gute Brite ist ein toter Brite.
»Richard von Northwoods«, sagte Vater Dominic. »Dieser Mann hat hier großes Unrecht getan. Ich habe ihm gleich erklärt, dass es … unklug wäre, im Fall dieser jungen Frau zu entscheiden, ohne alle Aussagen zu hören. Und als wir unter vier Augen miteinander sprachen, stimmte er mir zu. Es war äußerst unglückselig, dass ich abgerufen wurde, bevor ich Zeit hatte, den versammelten Pächtern zu erklären, was wir vorhatten. Dass Lord Richard seinen Schuldspruch sowohl in meinem als auch in seinem eigenen Namen gefällt hat, war nicht nur eine Lüge, sondern ein klarer Missbrauch der Autorität, die man ihm übertragen hat. Dass er das Urteil sofort vollziehen wollte, macht ihn noch verdächtiger. Er muss dafür zumindest verhört werden, und vielleicht auch wegen anderer Dinge.«
»Es sieht aus, als wäre er in all dieser Aufregung davongekommen«, meinte Simon und klang sehr wie sein Bruder. »Aber er wird nicht weit kommen. Auch ich habe einiges, worüber ich mit meinem Onkel sprechen muss. Obwohl ich vieles von der Vergangenheit vergessen habe, erinnere ich mich noch an ein paar Dinge. Er wird viele Fragen beantworten müssen.«
»Mein älterer Sohn ist mit seinen Männern losgeritten, um meinen Bruder zurückzubringen«, sagte Lady Anne. »Diese ganze Angelegenheit ist sehr bedrückend für mich, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt. Ich wusste, als ich mich auf den Weg machte, um Vater Dominic zu holen, dass es soweit kommen könnte.
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