Die Tochter der Wanderhure
rasch, wie sie gehofft hatte, kam Marie nicht dazu, Hiltrud zu besuchen. Abt Pankratius hatte von ihrer Reise in das Land der Moskowiter erfahren und wollte von ihr hören, wie es in jenem fernen Landstrich zuging. Daher musste Anni den Befehl geben, den Wagen wieder auszuspannen.
Inzwischen hatte Trudi es in der Burg nicht mehr ausgehalten und sich auf den Weg zum Ziegenhof gemacht. Die Bäuerin, eine große, wuchtig gebaute Frau mit weißen Haaren und einem für ihr Alter noch recht glatten Gesicht, fütterte gerade ihre Ziegen mit Brotresten, als das Mädchen erschien. Hiltrud war erfahren genug, um zu erkennen, welcher Kummer in ihrem Patenkind wühlte.
Schnell warf sie den Ziegen die letzten Brotkrumen hin und winkte Trudi, mit ihr zu kommen. »Du hast doch sicher Hunger. Komm mit! Ich mache dir ein Wurstbrot.«
Hunger war das Letzte, das Trudi verspürte, doch sie kannte die Bäuerin und wusste, dass sie deren Angebot nicht ausschlagen durfte. »Danke, Tante Hiltrud«, sagte sie daher artig und folgte der alten Frau ins Haus.
In der Küche wies Hiltrud mit dem Kinn auf einen Stuhl und holte anschließend Brot, Butter und Wurst aus dem kühlen Keller, der ihr als Vorratsraum diente.
»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte sie, während sie das Brot abschnitt und dick mit Butter bestrich.
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas auf dem Herzen hätte?« Trudi versuchte zu lachen, doch es kam nur ein kläglicher Laut aus ihrer Kehle.
»Natürlich hast du etwas auf dem Herzen. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an. Was willst du trinken, Wein?«
Die Frage erinnerte Trudi daran, dass sie im Fuchsheimer Wald zu viel getrunken hatte, und sie schüttelte mit einer Gebärde des Abscheus den Kopf. »Nein, danke! Mir reicht ein Becher Kräutertee.«
»Gut!« Hiltrud trat an den Herd, nahm einen Lappen und ergriff einen Topf, in dem sie einen Sud aus Melisse, Minze und Kamille warm hielt. »Der war zwar für eine kranke Ziege gedacht, aber er ist vielleicht auch gut für ein krankes Herz«, sagte sie, während sie einen Becher mit der dunklen Flüssigkeit füllte.
»Dir kann man wohl gar nichts verheimlichen.« Trudi seufzte tief und blickte zu Boden.
»So schlimm steht es?«
»Es ist nicht nur schlimm, es ist … sehr schlimm.« Das Mädchen blickte seine Patentante an wie ein verschrecktes Kätzchen. »Es ist so, weißt du … Da gibt es einen jungen Ritter. Er hat …, äh, nun, er gefällt mir gut.«
Hiltrud wiegte verwundert den Kopf. Das hörte sich wirklich nicht nach der Trudi an, die sie kannte. Bisher war ihr das Mädchen stets stark vorgekommen und hatte einen festen Willen gezeigt. Das Kind nun so elend vor sich zu sehen, tat ihr weh. Sanft nahm sie Trudi in die Arme und zog sie an ihren Busen.
»Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt? Weißt du, ich habe im Lauf meines Lebens erfahren, dass es manchmal gut ist, wenn man sich einem anderen Menschen anvertrauen kann. Ich erzähle auch gewiss nichts weiter.«
»Das weiß ich doch, Tante Hiltrud. Darum bin ich auch zu dirgekommen. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, sonst werde ich noch verrückt.«
»So schrecklich wird es doch nicht sein!« Ihren Worten zum Trotz machte die alte Bäuerin sich Sorgen. Sie kannte Trudi, seit diese auf ihrem Hof geboren worden war, und hatte sie noch über Dinge lachen hören, bei denen andere Mädchen bereits in Tränen ausgebrochen wären. Wenn ihr Patenkind so verzagt wirkte, musste ihm etwas Ernsthaftes zugestoßen sein.
Hiltrud drängte Trudi, von dem Kräutertee zu trinken, dem sie eine beruhigende Wirkung beimaß, setzte sich zu ihr und wartete darauf, dass sie weitersprach. Nachdem ihre Kinder bis auf einen Sohn den Hof verlassen hatten, war es still um sie geworden. Ihre erstgeborene Tochter hatte geheiratet, ihr ältester Sohn, der nach Ritter Michel benannt worden war, weilte in dessen Diensten als Kastellan auf Burg Kessnach im Odenwald, ihre Mechthild arbeitete oben in der Burg als Köchin, und Giso, ihr Jüngster, besuchte ein Priesterseminar. Nur Dietmar war auf dem Ziegenhof geblieben und ging meist ruhig und schweigsam seiner Arbeit nach. Meist bedauerte Hiltrud die Ruhe, die nun in ihrem Haus herrschte. An diesem Tag aber war sie froh, dass nicht ständig jemand in die Küche platzte, denn sonst wäre es ihr nicht gelungen, Trudi zum Reden zu bewegen.
Da das Mädchen so wirkte, als ziehe es sich in sich zurück, umschlang sie Trudi und brachte sie mit geschickten Fragen dazu, ihr
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