Die Tochter der Wanderhure
hinteren Eingang einen alten, aber noch wärmenden Schaffellumhang mit. Die Eisheiligen waren noch nicht vorbei, und daher konnte es in der Nacht kalt werden.
Ungesehen erreichte sie die Pforte in der Mauer und schlüpfte hindurch. Im Westen versank die Sonne gerade hinter den Hügeln, während im Osten bereits eine nächtliche Schwärze aufzog.
Bona nützte das letzte Licht des vergehenden Tages, um so rasch wie möglich von Mertelsbach fortzukommen. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass Elgard von Rendisheim sie verfolgen ließ, aber sie wollte nichts riskieren.
Als sie die Burg ein Stück hinter sich gelassen und ein Waldstück erreicht hatte, in dem sie sich den Blicken der Turmwächter entzogen wusste, ging ihr auf, dass sie kein Ziel hatte. Zu ihrem Vater durfte sie nicht zurückkehren, denn der hatte sich von Magnus von Henneberg und dem unsympathischen Prälaten Pratzendorfer auf die Seite des Würzburgers ziehen lassen und ihr erklärt, sie müsse dem Erben ihres Gemahls in allem gehorchen.
Obwohl er selbst begierig darauf war, einen möglichst großen Teil der Kibitzsteiner Besitzungen zu erhalten, gönnte er ihr nicht einmal die Mitgift, die sie benötigte, um in einem ehrbaren Kloster unterzukommen. Auf Kibitzstein wäre sie gewiss willkommen gewesen, doch das war wegen der Belagerung unerreichbar.
Welcher Mensch, fragte Bona bang, würde sich ihrer erbarmen? Ihr Schritt stockte, und für eine Weile war sie so verzweifelt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Aber das hätte sie auch auf Mertelsbach tun können.
Für einen Augenblick gab sie sich der Vorstellung hin, ein gesundes Kind in die Arme des wahren Vaters zu legen und seine Augen aufleuchten zu sehen. Da wusste sie mit einem Mal, wohin sie sich wenden musste. Energisch ging sie weiter und folgte schließlich einer Abzweigung, die in Richtung Steinsfeld führte.
Zwar befand sich Hardwin nicht zu Hause, aber das war ihr ganz recht. Er sollte sie nicht in diesem elenden Zustand sehen. Seiner Mutter glaubte sie vertrauen zu können. Leider durfte sie Frau Hertha nicht erzählen, dass sie ihr Enkelkind unter dem Herzen trug, sondern musste sie in dem Glauben lassen, sie sei nichts als eine von ihrem Stiefsohn und dessen Verwandten schlecht behandelte Witwe. Hardwins Mutter war harsch, aber auch gerecht, und würde ihr als der Tochter eines Nachbarn die notwendige Hilfe nicht verweigern.
3.
E twa um die gleiche Zeit, in der Bona den Entschluss fasste, nach Steinsfeld zu wandern, schlichen Falko und sein Freund Hilbrecht im Schatten der Burgmauer zu einer Ausfallpforte und öffneten das Guckloch, um zu den Belagerern hinüberzusehen. Die Stelle, an der sich das neue Geschütz aufgebaut befand, wurde von den Lagerfeuern hell ausgeleuchtet, und sie zählten mindestens ein Dutzend Männer, die dort Wache hielten.
»Glaubst du wirklich, dass wir das schaffen?«, fragte Hilbrecht ungewohnt furchtsam.
»Natürlich! Hätte ich sonst vorgeschlagen, dass wir es tun sollen?« Falkos Stimme klang gepresst. So sicher, wie er tat, war ersich seiner Sache nicht. Doch wenn sie die Belagerung noch längere Zeit durchstehen wollten, musste auch dieses Geschütz ausgeschaltet werden. Er zog seinen Freund näher zu sich, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten.
»Der Feind rechnet mit einem ähnlichen Ausfall wie jenem, bei dem wir die letzten Geschütze zerstört haben, aber nicht mit drei Männern, die tief in der Nacht zu ihren Pulvervorräten schleichen. Du wirst sehen, es ist kinderleicht, das Zeug in die Luft zu jagen. Meine Mutter hat so etwas auch schon gemacht, und zwar zusammen mit Anni und einer anderen Frau, die jetzt in Kitzingen verheiratet ist.«
Vor dem, was ein paar Frauen fertiggebracht hatten, durfte Hilbrecht seinem Gefühl nach nicht zurückschrecken, und so bemühte er sich, energisch und furchtlos zu wirken, ohne daran zu denken, dass Falko dies in der ägyptischen Finsternis gar nicht sehen konnte. Sie hatten die Fackeln, die diesen Teil des Burghofs während der Belagerung ausleuchteten, gelöscht, damit der Feind nicht auf sie aufmerksam wurde, wenn sie die Pforte öffneten.
»Also, wie machen wir es?«, fragte Hilbrecht mit betont munter klingender Stimme.
»Wir warten noch auf Giso!«
»Bin schon da!« Der jüngste Sohn der Ziegenbäuerin war unbemerkt näher getreten und gluckste fröhlich, als die beiden Jünglinge erschrocken auffuhren.
»Wenn wir auf unserem Weg genauso leise sind wie ich jetzt, werden die
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