Die Tochter der Wanderhure
Dunkelheit.
Der Feind hatte Kibitzstein zwar in einem weitläufigen Bogen eingekreist, doch dieser Ring war gegenüber dem Hauptlager recht dünn geraten, und die Wachfeuer leuchteten in diesem Teil nicht alles aus. Daher konnten die drei Freunde an den Wächtern vorbeischleichen. Die feindlichen Soldaten standen um die Feuer herum und unterhielten sich, statt sorgfältig Ausschau zu halten. Ärger erwarteten sie allenfalls auf der Vorderseite der Burg, an der das neue Geschütz stand. Sie selbst kamen sich überflüssig vor, weil die Kibitzsteiner keine Hilfe von außen zu erwarten hatten und ein Ausfall in ihre Richtung angesichts der steilen Weinberge sinnlos war. Jeder Trupp, der die Hänge als Fluchtweg benutzen wollte, würde von den Belagerern rasch gestellt werden.
Falko und seine Freunde dankten den Wächtern im Stillen für ihre Unaufmerksamkeit und schlichen durch die Weinberge, die ihnen nicht nur Deckung verschafften, sondern ihnen auch halfen, sich in der mondlosen Nacht zu orientieren. Ein Stück hinter Habichten verließen sie die schier endlosen Reihen der Rebstöcke und schlugen einen Bogen, der sie zur Burg zurückführte. Dabei wiesen ihnen die lodernden Feuer der Belagerer den Weg.
An einem schmalen Graben hielt Falko an und griff in den feuchten Schlamm. »Schmiert euch damit Gesicht und Hände ein, sonst seid ihr im Feuerschein zu schnell auszumachen.«
»Du tust ja so, als würdest du so etwas jede Woche machen«, maulte Hilbrecht, der sich nicht schmutzig machen wollte.
»Erinnere dich an die Lehren deines Vaters! Der war ein fast so großer Krieger wie der meine.«
»Das ›fast‹ will ich überhört haben«, entgegnete Hilbrecht undtarnte sein Gesicht nun ebenfalls mit einer Schlammschicht. Auch Giso befolgte den Rat. Als jemand, der das Paternoster nicht nur fehlerfrei beten konnte, sondern auch wusste, was die lateinischen Worte bedeuteten, sah er mit einer gewissen Nachsicht auf die beiden Rittersöhne hinab. Dennoch war er froh, dass die beiden kühles Blut bewahrten und Falko sich als würdiger Anführer erwies.
Kurz darauf erreichten sie den Rand des von den Wachfeuern ausgeleuchteten Geländes und blickten begehrlich auf das wuchtige Holzgestell, auf dem das Geschütz lag. An dieser Stelle war es so hell, dass selbst eine Maus keine drei Schritte weit kam, ohne entdeckt zu werden. Den Wagen mit den Pulvervorräten hatten die Belagerer jedoch nach der ersten bösen Erfahrung etliche Schritte von der Kanone und den Burgmauern entfernt aufgestellt und in respektvollem Abstand darum herum einen lockeren Kreis von Wachfeuern entzündet. Deren Flammen erzeugten nun ein flackerndes Spiel von Licht und Schatten, das einem beherzten Jüngling genügend Deckung bieten konnte.
»Zu dritt schaffen wir das nicht. Das ist zu gefährlich.« Falko rieb sich nachdenklich die Nase, dann steckte er die Tonflasche, die er mit Pulver gefüllt hatte, unter seinen Kittel und entblößte sein Gebiss zu einem Grinsen, das seine Zähne im Licht der Feuer wie Perlen schimmern ließ.
»Ich wage es! Gelingt es mir, ist es gut. Werde ich erwischt, müsst ihr zusehen, dass ihr die Beine in die Hand nehmt.«
»Sollte nicht besser ich gehen?«, wandte Giso ein. »Wenn du gefangen wirst, muss deine Mutter die Burg übergeben, denn Henneberg wird sie sicher mit deinem Leben erpressen. Ich hingegen werde höchstens umgebracht.«
»Es ist unsere Burg, und wenn ich sie behalten will, muss ich mich ihrer würdig erweisen. Gelingt es uns nicht, das Pulver zu sprengen, wird das Geschütz über kurz oder lang das Tor und den Torturm zusammenschießen. Dann kommt es zum Sturmangriff,und ob wir den überstehen, steht in den Sternen. Also gehe ich.«
Ohne auf eine Antwort seiner Freunde zu warten, kroch Falko wie ein Salamander auf allen vieren davon. Hilbrecht wollte ihm folgen, doch Giso hielt ihn zurück.
»Falko hat recht. Diese Tat kann nur von einem vollbracht werden!«
4.
J ede Bodenunebenheit nutzend, kroch Falko auf den Pulverwagen zu. Alles in ihm drängte, es schnell hinter sich zu bringen, aber er blieb vorsichtig und behielt die Wachen im Auge. Immer wenn einer der Männer den Kopf in seine Richtung wandte, drückte er sich eng an den Boden und rührte sich nicht. Auf diese Weise schienen Stunden zu vergehen, ohne dass er dem Wagen nennenswert näher kam. Im Stillen dankte er Giso, der ihm den schlichten Bauernkittel aufgenötigt hatte, denn der unterschied sich kaum von der Farbe der zertrampelten
Weitere Kostenlose Bücher