Die Tochter des Fotografen
irgendwie nervös.«
»Das hat man gar nicht gemerkt.«
»Kein bißchen«, bestätigte Norah. »Du hattest eine tolle Bühnenpräsenz.«
|262| Paul schüttelte seine Hände aus, als ob er überschüssige Energie loswerden wollte. »Wißt ihr, was das beste ist? Mark Miller hat mich eingeladen, beim Arts Festival mit ihm zu spielen.« Marc Miller war Davids Gitarrenlehrer und hatte sich als Musiker schon einen Namen gemacht. David freute sich für ihn.
»Das ist großartig«, lachte Norah. Dann sah sie auf und bemerkte Pauls gequälten Gesichtsausdruck. »Aber was ist denn mit dir los?«
Paul wand sich, schob die Hände in die Taschen und ließ seine Blicke über die überfüllte Eingangshalle schweifen. »Es ist nur – ich weiß nicht –, du klingst irgendwie lächerlich. Ich meine, du bist doch kein Teenager mehr, oder?«
Norah wurde rot. Als David sah, wie still sie wurde, spürte er einen Stich in der Brust. Sie wußte nicht, aus welchem Grund Paul wütend war. Sie wußte nicht, daß ihre am Strand verstreuten Kleider noch immer im Wind flatterten, einem Wind, den David selbst vor vielen Jahren entfesselt hatte.
»So spricht man nicht mit seiner Mutter«, wies David, nun seinerseits zornig, Paul zurecht. »Ich will, daß du dich sofort bei ihr entschuldigst.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Okay, okay, Entschuldigung.«
»Ich will sehen, daß du es auch so meinst.«
»Laß es gut sein, David.« Norahs Hand lag auf seinem Arm. »Laß uns keine Prinzipienfrage daraus machen. Bitte. Wir sind alle einfach ein bißchen aufgeregt, das ist alles. Laßt uns nach Hause fahren und feiern. Ich dachte daran, ein paar Gäste einzuladen. Bree wollte vorbeischauen und die Marshalls – war es nicht Lizzie, die so gut Flöte gespielt hat? Und vielleicht sollten wir auch Dukes Eltern Bescheid sagen, was meinst du, Paul? Ich kenne sie zwar nicht besonders gut, aber vielleicht haben auch sie Lust vorbeizukommen?«
»Nein«, erklärte Paul. Er war mit seinen Gedanken weit weg und sah an Norah vorbei auf die Menschenmenge im Foyer.
|263| »Ist das dein Ernst? Willst du Dukes Familie nicht einladen?«
»Ich will niemanden einladen«, sagte Paul. »Ich will einfach nur nach Hause fahren.«
Einen Augenblick blieben sie so stehen, eine Insel der Stille inmitten eines rauschenden Meeres.
»Na, dann los«, sagte David schließlich. »Laßt uns nach Hause fahren.«
Als sie ankamen, war das Haus dunkel, und Paul verschwand sofort nach oben. Sie hörten, wie er ins Bad ging und wieder hinauskam; hörten, wie sich seine Tür leise schloß und wie der Schlüssel umgedreht wurde.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Norah. Sie hatte ihre Schuhe abgestreift und erschien ihm nun sehr klein und verletzlich, wie sie da mit ihren bestrumpften Füßen mitten in der Küche stand. »Er hat so gut gespielt, und er wirkte auch so glücklich – was ist nur in ihn gefahren? Ich verstehe das nicht.« Sie seufzte. »Teenager. Ich gehe mal lieber zu ihm und rede mit ihm.«
»Nein«, wehrte er ab. »Laß mich gehen.«
Ohne das Licht anzuschalten, stieg David die Treppe hoch und wartete noch eine Weile in der Dunkelheit vor Pauls Tür. Er erinnerte sich, mit welch feinen, präzisen Bewegungen die Hände seines Sohnes über die Saiten geglitten waren und dabei den Zuhörerraum mit Musik erfüllt hatten. Er hatte damals, vor all den vielen Jahren, die falsche Entscheidung getroffen. Er hatte einen Fehler gemacht, als er seine Tochter Caroline Gill anvertraut hatte. Er hatte diese Entscheidung getroffen, und nun stand er hier, in dieser Nacht, in der Dunkelheit vor Pauls Zimmer. Er klopfte, aber Paul reagierte nicht darauf. Er klopfte noch einmal, und als immer noch keine Antwort kam, ging David an den Bücherschrank, suchte den dünnen Nagel heraus, den er dort aufbewahrte, und ließ ihn in das Loch am Türknauf gleiten. Ein leises Klicken war zu hören, und mit einer Drehung des Knaufs schwang die Tür |264| auf. Es überraschte ihn nicht, daß das Zimmer leer war. Als er das Licht anknipste, wurde der blasse weiße Vorhang von einem Windstoß erfaßt und schwebte an die Zimmerdecke.
»Er ist weg«, informierte er Norah. Sie war noch immer in der Küche und wartete mit verschränkten Armen darauf, daß das Wasser im Teekessel anfing zu kochen.
»Weg?«
»Das Fenster stand offen. Wahrscheinlich ist er am Baum hinabgeklettert.«
Sie drückte ihr Gesicht in ihre Hände.
»Hast du irgendeine Idee, wo er sein könnte?«
Sie schüttelte den
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