Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
die kühlen Scheine in seine Hosentasche gleiten und trat zurück in den großen Raum. Inzwischen waren zwei ältere Jungs gekommen, die während der Pause immer auf dem leeren Parkplatz gegenüber der Schule herumhingen und rauchten. Einer von ihnen hatte ein Sixpack dabei und reichte ihm ein Bier, und Paul hätte fast gesagt: »Laßt uns runtergehen, laßt uns das draußen machen«, aber der Regen war stärker geworden, und die Jungs waren älter und kräftiger als er, so daß er sich einfach dazusetzte. Er gab Duke das Geld, und der glimmende Stummel wanderte im Kreis. Paul war fasziniert von der Geschmeidigkeit, mit der Dukes Fingerspitzen den Joint hielten, und er dachte daran, wie sie eben noch mit wilder Präzision über die Tasten gejagt waren. Auch sein Vater war in allem sehr genau. Immerhin flickte er die Knochen anderer Menschen zusammen.
    »Merkst du schon was?« fragte Duke nach einer Weile.
    Paul hörte ihn aus weiter Ferne sprechen, als ob er unter Wasser wäre, als ob im Hintergrund das stete Pfeifen eines Zugs zu hören wäre. Dieses Mal gab es kein wildes Gelächter, keine Schwindelgefühle, er spürte nur, wie er in einen tiefen Brunnen fiel. Plötzlich konnte er Duke nicht mehr sehen und bekam Angst.
    »Was ist los mit ihm?« fragte jemand, und Duke sagte: »Wahrscheinlich wird er gerade paranoid«, und die Worte nahmen den ganzen Raum ein, drängten ihn an die Wand. Lachsalven klangen durch den Raum. Paul war nicht nach Lachen zumute, er saß da wie festgefroren. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet, und er hatte den Eindruck, daß seine |287| Hände viel zu groß für seinen Körper wurden. Er starrte auf die Tür, deren Umrisse er erkannte, als könnte jeden Moment sein Vater hereinplatzen und sie in seinem Ärger ertränken.
    Dann verstummte das Gelächter, und die anderen standen auf. Sie wühlten in den Schubladen und suchten nach etwas Eßbarem, aber sie fanden nur die fein sortierten Aktenordner seines Vaters.
»Nicht«
, wollte er dem Ältesten mit dem Bart zurufen, der schon die Ordner herausholte und öffnete.
»Nicht!«
Es war ein stummer Schrei. Auch die anderen standen da, holten einen Ordner nach dem anderen heraus und breiteten die Bilder und Negative, die so minutiös geordnet waren, auf dem Boden aus.
    »Hey«, sagte Duke und drehte sich zu ihm, um ihm ein Bild im glänzenden Acht-mal-zehn-Format hinzuhalten. »Bist du das?«
    Paul saß bewegungslos auf dem Boden und schlang die Arme um seine Knie, sein Atem ein wildes Rauschen in seinen Lungen. Es war ihm unmöglich, sich zu regen. Duke ließ das Bild auf den Boden segeln und ging zu den anderen, die inzwischen etwas roher vorgingen und die Bilder und Negative über den schimmernden Fußboden verstreuten.
    Er saß dort, absolut reglos. Eine ganze Weile traute er sich nicht, sich zu rühren, doch dann bewegte er sich. Er fand sich in der Dunkelkammer wieder, vergrub sich in einer warmen Ecke und lauschte den Geräuschen, die von draußen hereindrangen: aufwallender Lärm, Gelächter, eine zerbrochene Flasche. Irgendwann war es still. Die Tür ging auf, und Duke sagte: »Hey, was machst du denn hier drin, alles in Ordnung bei dir?« Und als Paul nicht antwortete, hörte er sie wild und eilig herumdiskutieren, bis sie die Treppe heruntergepoltert und verschwunden waren. Paul stand langsam auf und tappte im Dunkeln herum; er trat in den Ausstellungsraum, dessen Boden von Fotos übersät war. Er stand am Fenster und sah, wie Duke auf dem Fahrrad lautlos die Einfahrt hinunterrollte, |288| sein rechtes Bein über den Rahmen schwang, bevor er um die Ecke bog und aus dem Bild verschwand.
    Paul war unglaublich müde. Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen: Überall lagen Fotos herum, die durch den leichten Windzug vom Fenster aufgewirbelt wurden, Negative hingen wie Luftschlangen von der Ablage herunter. Eine Flasche war zu Bruch gegangen. Über den ganzen Boden verteilt lagen grüne Glasscherben. Er lehnte sich gegen die Tür, rutschte herunter, bis er in dem wüsten Durcheinander auf dem Boden saß. Er würde sehr bald wieder aufstehen müssen, um aufzuräumen.
    Er nahm ein Bild auf. Was er sah, sagte ihm nichts: ein heruntergekommenes Haus, das seitlich in den Hang gebaut war. Davor standen vier Personen: eine Frau mit knöchellanger Schürze, die Hände vor dem Bauch gefaltet, der Wind bläst ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Ein gebeugter, hagerer Mann steht neben ihr und hält einen Hut vor seine Brust.

Weitere Kostenlose Bücher