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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Welt war noch zu grell und unsortiert. Wie gern hätte er die Traurigkeit in der Stimme seines Vaters verbannt, die Stille verscheucht, die das Haus erfüllte. Nichts ersehnte er so sehr, wie hier neben seinem Vater zu sitzen und sich seine Geschichten anzuhören. Er hatte |291| Angst, daß er etwas Falsches sagen und alles zerstören könnte, so wie man ein Foto ruinieren konnte, wenn zuviel Licht aufs Papier fiel. Wenn das einmal geschehen war, war es zu spät.
    »Es tut mir leid.«
    Sein Vater nickte und sah auf den Boden. Er streifte mit seiner Hand kurz über Pauls Haar.
    »Das glaube ich dir«, sagte er.
    »Ich werde alles wieder in Ordnung bringen.«
    »Das weiß ich doch.«
    »Aber ich liebe die Musik«, sagte Paul und wußte, daß er das besser nicht gesagt hätte; es war wie ein plötzlicher Lichteinfall, der das Bild schwarz werden ließ, und doch konnte er sich nicht zurückhalten. »Die Musik ist mein Leben. Ich werde nie darauf verzichten.«
    Sein Vater schwieg eine Weile und ließ dabei den Kopf hängen. Dann stand er seufzend auf. »Verbau dir nicht all deine Wege, das ist alles, worum ich dich bitte.«
    Paul beobachtete seinen Vater, wie er in der Dunkelkammer verschwand. Dann kniete er sich hin und begann einzelne Scherben aufzusammeln. In der Ferne rauschten Züge vorbei, und der Himmel hinter den Fensterscheiben öffnete sich für die Ewigkeit in einem klaren Blau. Im grellen Morgenlicht hielt Paul einen Moment inne und lauschte den Geräuschen seines Vaters, die aus der Dunkelkammer drangen. Er stellte sich vor, wie sich die heilenden Hände seines Vaters behutsam einem menschlichen Körper widmeten.

|292| 14. Kapitel
    September 1977
    D AS POLAROID SURRTE AUS DER KAMERA, UND Caroline zog es, mit Daumen und Zeigefinger eine Ecke fassend, heraus. Ganz langsam nahm das Bild Formen an. Der Tisch und die weiße Tischdecke traten vor einem Meer aus dunkelgrünem Gras hervor. Weiße, leicht schimmernde Mondblumen wuchsen an den umliegenden Hängen. In ihrem Konfirmationskleid war Phoebe nichts als ein milchiger Fleck. Caroline wedelte das Foto an der dufterfüllten Luft trocken. In weiter Ferne hörte man Donnergrollen – ein Spätsommergewitter kündigte sich an. Der aufkommende Wind spielte mit den Papierservietten.
    »Eins noch«, sagte sie.
    »Muß das sein, Mama?« protestierte Phoebe, blieb aber ruhig stehen.
    Kaum war das Klicken des Auslösers zu hören, war sie schon weg und rannte über den Rasen zu Avery, ihrer achtjährigen Nachbarin, die ein kleines Kätzchen auf dem Arm hielt, dessen Haare vom selben rostbraunen Ton waren wie ihre. Für ihre dreizehn Jahre war Phoebe ziemlich klein, ein bißchen mollig, dennoch impulsiv und leidenschaftlich. Zwar lernte sie langsam, doch Ausgelassenheit, Nachdenklichkeit, Traurigkeit und Freude wechselten sich bei ihr in rasanter Geschwindigkeit ab. »Ich bin konfirmiert!« rief sie und lief, die Arme nach oben gestreckt, kreuz und quer über den Rasen, so daß die Gäste die Köpfe wandten und lächelten. Mit wehendem Kleid rannte sie auf Tim zu, Sandras Sohn, mittlerweile ein Teenager wie sie selbst. Sie schlang ihre Arme um ihn und küßte ihn überschwenglich auf die Wange. Dann besann sie sich und |293| blickte ängstlich zu Caroline. Ihr Umarmungsdrang war in diesem Jahr schon in der Schule zum Problem geworden. »Ich
mag
dich«, pflegte Phoebe zu sagen, wenn sie ein Kind in die Arme schloß – sie wußte nicht, was daran verboten sein sollte. Caroline hatte ihr immer wieder erklären müssen, daß Umarmungen etwas Besonderes waren: »Umarmungen sind nur für die Familie«, hatte Phoebe mit der Zeit gelernt. Wenn Caroline sah, wie Phoebe ihre Liebe im Zaum hielt, fragte sie sich allerdings, ob sie alles richtig gemacht hatte.
    »Ist schon gut, Schatz«, rief Caroline. »Du kannst deine Freunde auf deiner Feier ruhig umarmen.«
    Phoebes Anspannung wich. Sie ging mit Tim zum Kätzchen, um es zu streicheln. Caroline betrachtete das Polaroid in ihrer Hand: der leuchtende Garten und Phoebes Lächeln, ein flüchtiger, längst vergangener Moment, der festgehalten war. Obwohl der Donner in der Ferne anschwoll, war der Abend noch immer freundlich und angenehm mild. Wo man hinsah, wunderschöne Blumen. Überall auf dem Rasen liefen Menschen umher, unterhielten sich und lachten und füllten ihre Plastikbecher nach. Eine dreistöckige Torte mit weißem Zuckerguß stand auf dem Tisch, mit dunkelroten Rosen aus dem Garten verziert. Drei Tortenringe für drei

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