Die Tochter des Fotografen
inne, atmete tief durch, während sich die Welt um sie herum drehte – das Geräusch quietschender Reifen und der Geruch von verbrauchtem Benzin, die sanfte Bewegung der zarten Frühlingsblätter an den Bäumen. Anschwellendes Stimmengewirr umgab sie, wenn Menschen näher kamen, die sich dann wieder entfernten und Bruchstücke von Gesprächen hinterließen, die wie Papierfetzen vom Wind davongetragen wurden. Menschen, in teure dunkle Anzüge oder in Seidengewänder und hochhackige Schuhe gekleidet, strömten die steinerne Treppe des Museums hinauf. Der Himmel leuchtete in einem immer dunkler werdenden Indigo, und die Straßenlaternen brannten; in den Straßen hing überall der Duft von Zitrone und Minze, der vom Pfarrfest der griechich-orthodoxen Kirche eine Straße weiter herzog. Caroline schloß die Augen und dachte an schwarze Oliven, die sie nie probiert hatte, bevor sie in diese Stadt gezogen war. Sie dachte an das bunte Mosaik, das der Markt samstagmorgens am schmalen Streifen am Ufer darstellte: frisches Brot, Blumen, Obst und Gemüse, ein wildes Gemisch aus Lebensmitteln und Farben entlang des Flusses, alles Dinge, die sie niemals kennengelernt hätte, wenn es nicht David Henry und den unvorhergesehenen Schneesturm gegeben hätte. Sie machte einen Schritt vorwärts, dann noch einen und verschwand in der Menge.
Das Museum hatte hohe weiße Decken und einen Holzboden, der dunkelgolden glänzte. Caroline bekam ein dickes |318| Programmheft aus samtigem Papier in die Hand gedrückt mit David Henrys Namen oben auf der Titelseite. Eine Reihe von Fotos folgten. »Dünen in der Dämmerung«, las sie. »Ein Baum im Herzen.« Sie ging in den Ausstellungsraum und sah sein berühmtestes Foto, den sich in sanften Wellenlinien erstreckenden Strand, der mehr war als ein Strand: die Rundung einer weiblichen Hüfte, an die sich in einem perfekten Übergang ihr Bein in seiner vollen Länge anschloß, das sich zwischen den Dünen nur erahnen ließ. Jedes Bild stand stets an der Schwelle, etwas anderes darzustellen, und dann, plötzlich, tat es das auch. Als Caroline die Abbildung zum erstenmal gesehen hatte, hatte sie gut eine Viertelstunde darauf gestarrt und gewußt, daß die fleischliche Rundung ein Teil von Norah Henry war. Sie erinnerte sich an ihren Bauch, den kleinen weißen Hügel, der sich in Kontraktionen gewunden hatte, und an ihren kräftigen Griff. Jahrelang hatte sie sich mit Verachtung für Norah Henry getröstet, jene gebieterische Frau, die Unbeschwertheit und Ordnung gewohnt war und doch Phoebe in einem Kinderheim ausgesetzt hätte. Doch dieses Foto zerstörte ihr Bild. Diese Aufnahmen zeigten eine Frau, die sie nie gekannt hatte.
Menschen drängten in den Saal und nahmen die Plätze ein. Auch Caroline setzte sich und beobachtete alles sehr aufmerksam. Dann wurde das Licht gedimmt und wieder angeschaltet, und plötzlich brandete Applaus auf – David Henry betrat den Saal und lächelte ins Publikum, groß und nicht mehr ganz so hager. Daß er kein junger Mann mehr war, erschreckte sie. Er war fast völlig ergraut und ging in einer leicht gekrümmten Haltung. Er bestieg das Podium und ließ seinen Blick übers Publikum schweifen. Caroline hielt den Atem an – sie war sich sicher, daß er sie gesehen, daß er sie sofort erkannt hatte, so wie sie ihn erkannte. Er räusperte sich und kommentierte mit einer lustigen Bemerkung das Wetter. Als das Gelächter um sie herum wieder verebbt war |319| und er in seine Aufzeichnungen sah und zu sprechen begann, wußte sie, daß ihr Gesicht in der Masse verschwand.
Sein Vortrag war sicher, obwohl Caroline kaum darauf achtete, was er sagte. Statt dessen beobachtete sie die vertrauten Gesten seiner Hände, betrachtete die kleinen Falten in seinen Augenwinkeln, die dem Alter geschuldet waren. Sein Haar trug er länger, und wenn es auch grau war, war es noch dicht und voll. Er schien zufrieden mit sich zu sein, angekommen. Sie dachte an jene Nacht, die nun gut zwanzig Jahre zurücklag, als er aufgewacht war, seinen Kopf vom Schreibtisch erhoben und sie dabei ertappt hatte, wie sie schutzlos und verliebt in der Tür stand. In diesem Moment waren sie beide so verwundbar gewesen, wie es nur irgend ging. Damals hatte sie gemerkt, daß er etwas verborgen hielt, das zu persönlich war, um es preiszugeben. Und selbst heute noch war es zu sehen – David Henry führte ein Doppelleben. Zu glauben, daß dieses Geheimnis mit irgendwelchen Gefühlen für sie zu tun haben könnte, war
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