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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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ihn nicht erkannt hätte, wäre er ihr auf der Straße begegnet.
    Als er weitersprach, nahm seine Stimme einen sanfteren Ton an, obwohl noch immer ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. »Ich bin zu dir nach Hause gefahren, Caroline, am Tag nach der Beisetzung. Ich war dort, aber du warst schon fort. In all dieser Zeit …«, begann er und verstummte.
    Man hörte ein leises Klopfen an der Tür, eine gedämpfte, fragende Stimme.
    |322| »Eine Minute noch«, rief David.
    »Ich habe dich geliebt«, sagte Caroline urplötzlich, überrascht über ihr eigenes Geständnis, denn es war das erste Mal, daß sie dies je ausgesprochen hatte, sogar vor sich selbst, obwohl es eine Tatsache war, mit der sie Jahre gelebt hatte. Das Bekenntnis beschwingte sie, ließ sie leichtsinnig werden, und sie fuhr fort. »Weißt du, ich habe mir unzählige Male ein Leben mit dir vorgestellt. Und es war dieser Augenblick auf dem Friedhof, als mir klar wurde, daß du mich niemals wirklich wahrgenommen hattest.«
    Während sie sprach, ließ er seinen Kopf hängen, nun schaute er auf. »Ich wußte es. Ich wußte, daß du mich liebst. Wie hätte ich dich sonst darum bitten können? Es tut mir leid, Caroline. Seit Jahren schon. Es tut mir sehr leid.«
    Sie nickte, Tränen standen ihr in den Augen, und ihr jüngeres Ich war immer noch lebendig, stand immer noch abseits der Trauergemeinde, unbeachtet, unsichtbar. Selbst in diesem Augenblick stieg noch die Wut in ihr hoch, daß er sie damals übersehen hatte. Und daß er nicht gezögert hatte – obwohl er sie überhaupt nicht kannte –, sie darum zu bitten, seine Tochter fortzuschaffen.
    »Bist du glücklich?« fragte er. »Bist du glücklich mit deinem Leben, Caroline? Ist Phoebe glücklich?«
    Seine Frage, die Sanftheit seiner Stimme entwaffnete sie. Sie dachte an Phoebe, wie sie mit viel Mühe Briefe schrieb, wie sie gelernt hatte, sich die Schuhe zuzubinden. Phoebe, wie sie glücklich im Hof spielte, während Caroline einen Anruf nach dem anderen erledigte und für ihre Ausbildung kämpfte. Phoebe, wie sie ihre weichen Arme ohne jeden Grund um Carolines Hals schlang und »Ich liebe dich, Mama« sagte. Sie dachte an Al, der zu häufig nicht da war, aber doch am Ende einer langen Woche mit Blumen in der Hand, frischen Brötchen oder einem kleinen Geschenk für sie oder für Phoebe in der Tür stand. Als sie in David Henrys Praxis gearbeitet hatte, war sie so jung, so einsam und naiv gewesen, daß sie sich |323| selbst als eine Art Gefäß gesehen hatte, das mit Liebe aufgefüllt werden mußte. Aber so war es nicht, das hatte sie gelernt. Die Liebe war stets in ihr. Und erneuert wurde sie dann, wenn man sie an jemanden weitergab.
    »Willst du das wirklich wissen?« fragte sie schließlich und sah ihm in die Augen. »Weil du nie zurückgeschrieben hast, David. Außer diesem einen Mal hast du nicht das leiseste Interesse an unserem Leben gezeigt. All die Jahre nicht.« Während Caroline sprach, merkte sie, daß dies der Grund war, warum sie gekommen war. Ganz bestimmt nicht aus Liebe oder weil sie der Vergangenheit nachtrauerte, auch nicht aus einem Schuldgefühl heraus. Die Erbitterung und der Wunsch, die Verhältnisse richtigzustellen, hatten sie hierhergeführt. »Jahrelang wolltest du nicht wissen, wie es mir geht. Wie es Phoebe geht. Dir war es einfach scheißegal, oder nicht? Und dann kam dieser letzte Brief; jener, den ich nie beantwortet habe. Plötzlich wolltest du sie zurück.«
    David gab ein kurzes, verstörtes Lachen von sich. »Das ist es also, was du denkst? Hast du deshalb nicht zurückgeschrieben?«
    »Was sollte ich sonst denken?«
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Caroline. Ich habe dich nach deiner Adresse gefragt. Immer wieder. Jedesmal wenn ich dir Geld geschickt habe. Und in diesem letzten Brief habe ich dich einfach nur darum gebeten, wieder an deinem Leben teilhaben zu können. Was hätte ich noch tun können? Ich weiß, daß du das nicht wirst nachvollziehen können, aber ich habe jeden Brief aufbewahrt, den du mir geschickt hast. Und als du mir nicht mehr geschrieben hast, war es für mich, als hättest du mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.«
    Caroline dachte an ihre Briefe, an all ihre mit Herzblut geschriebenen Bekenntnisse, die über die Tinte den Weg aufs Papier gefunden hatten. Sie wußte nicht mehr, worüber sie geschrieben hatte – über Details aus Phoebes Leben, über ihre eigenen Hoffnungen, ihre Träume und ihre Ängste.
    |324| »Wo sind sie?« fragte sie.

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