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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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ein Fehler gewesen.
    Als er seine Rede beendet hatte, erntete er tosenden Applaus. Er sprang vom Podium herunter, um einen tiefen Schluck aus einem Glas Wasser zu nehmen, dann beantwortete er Fragen. Es gab einige Fragen; von einem Mann mit einem Notizbuch, einer Matrone mit grauem Haar und einer ganz in Schwarz gekleideten jungen Frau, die in einem etwas barschen Ton etwas zu den formalen Aspekten seiner Arbeit wissen wollte. Carolines Anspannung nahm zu, und ihr Herz klopfte so stark, daß sie kaum Luft bekam. Schließlich waren alle Fragen beantwortet, ein Schweigen füllte den Raum. David Henry räusperte sich, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er dem Publikum dankte und sich abwandte. Caroline spürte, wie sie aufstand, fast gegen ihren eigenen Willen, und ihre Handtasche wie einen Schutzschild vor ihren Körper hielt. Sie ging quer durch den Saal und trat zu der kleinen Gruppe, die sich um ihn herum gebildet hatte. Er sah zu ihr herüber und lächelte, höflich, ohne sie zu erkennen. |320| Sie wartete weitere Fragen ab und wurde allmählich ruhiger, je mehr Zeit verstrich. Der Kurator der Ausstellung strich um die Gruppe, doch als sich eine kleine Gesprächspause ergab, trat Caroline hervor und legte ihre Hand auf Davids Arm.
    »David«, sagte sie. »Erkennst du mich nicht?«
    Er studierte ihr Gesicht.
    »Habe ich mich so verändert?« flüsterte sie.
    Dann sah sie, daß er begriff. Seine Mimik änderte sich, und fast entglitten ihm die Gesichtszüge. Die Röte schoß ihm vom Nacken ins Gesicht, und ein kleiner Muskel pulsierte in seiner Wange. Caroline fühlte sich, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht, als wären sie wieder in der Klinik, und draußen würde der Schnee herabfallen wie vor unzähligen Jahren. Sie sahen sich schweigend an, als ob der Raum und die anderen Menschen darin nicht mehr existierten.
    »Caroline«, sagte er schließlich, nachdem er sich gefangen hatte. »Caroline Gill. Eine alte Freundin«, fügte er, an die Menschen gerichtet, die sich immer noch um ihn scharten, hinzu. Er hob seine Hand, richtete seine Krawatte, und ein Lächeln formte sich in seinem Gesicht, das nicht bis zu den Augen hinaufreichte. »Vielen Dank«, sagte er und nickte den anderen zu. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie gekommen sind. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden.«
    Dann schritten sie durch den Raum. David ging an ihrer Seite, eine Hand sacht, aber bestimmt auf ihrem Rücken, als könnte sie wieder verschwinden, wenn er sie nicht festhielte.
    »Laß uns hier hineingehen«, sagte er und trat hinter eine Dia-Leinwand, wo sich eine rahmenlose Tür auftat, die in der weißen Wand kaum zu sehen war. Er führte sie hinein, eilig, und schloß die Tür hinter ihnen. Es war eine kleine Abstellkammer, in der eine nackte Glühbirne ihr Licht auf die mit Farbtöpfen und Werkzeug gefüllten Regale warf. Sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, nur wenige Zentimeter trennten sie. Sein Duft, das süßliche Rasierwasser, |321| erfüllte den Raum, darunter mischte sich ein klinischer Geruch mit einer Spur Schweiß, an den sie sich jetzt wieder erinnerte. In der Kammer war es heiß, plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sah silberne Sternchen.
    »Caroline«, sagte er. »Großer Gott, lebst du hier? In Pittsburgh? Warum hast du mir nie gesagt, wo du bist?«
    »Es wäre nicht schwer gewesen, mich zu finden. Andere haben es auch geschafft«, sagte sie langsam und dachte an Al, wie er damals den kleinen Weg heraufkam – erst da wurde sie sich seiner Hartnäckigkeit bewußt. Und obwohl es der Wahrheit entsprach, daß David Henry sich bei der Suche nach ihr keine große Mühe gegeben hatte, war es ebenso richtig, daß sie nicht hatte gefunden werden wollen.
    Draußen näherten sich Schritte und hielten inne. Es folgte hektisches Gemurmel. Sie betrachtete sein Gesicht. All diese Jahre hatte sie jeden Tag an ihn gedacht, und jetzt wußte sie nicht, was sie sagen sollte.
    »Solltest du nicht besser wieder rausgehen?« fragte sie und schielte zur Tür hinüber.
    »Die werden schon warten.«
    Sie sahen sich an und sprachen nicht. Caroline hatte ihn all diese Zeit in ihrem Gedächtnis gespeichert wie eine Fotografie, wie Hunderte, Tausende Fotografien. All diese Bilder zeigten David Henry als einen jungen Mann voller Energie und Entschlossenheit. Wenn sie jetzt auf seine dunklen Augen und die rundlicheren Wangen schaute, auf seine perfekt sitzenden Haare, dann wurde ihr klar, daß sie

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