Die Tochter des Fotografen
»Wo bewahrst du meine Briefe auf?«
Er wirkte überrascht. »In meinem Büro. In der unteren linken Schublade von meinem Schreibtisch. Warum?«
»Ich hätte nicht gedacht, daß du sie überhaupt liest«, sagte Caroline. »Ich hatte das Gefühl, ich schreibe ins Leere. Vielleicht fühlte ich mich deswegen so frei. So frei, daß ich dachte, ich könnte einfach alles sagen.«
David fuhr sich mit der Hand über die Wange, eine Geste, die immer dann kam, wenn er müde oder entmutigt war, wie sie sich erinnerte. »Ich habe sie gelesen. Anfangs mußte ich mich dazu zwingen, um ehrlich zu sein. Später dann wollte ich wissen, was mit euch passierte, auch wenn es bitter war. Du hast mir Momentaufnahmen von Phoebe geschenkt. Kleine Fetzen aus dem Stoff eures Lebens. Ich habe mich immer wieder auf den nächsten gefreut, Caroline.«
Sie antwortete nicht und erinnerte sich an die Genugtuung, die sie an dem regnerischen Tag verspürt hatte, als sie Phoebe nach oben schickte, damit sie sich ihre nassen Sachen auszog. Sie hatte im Wohnzimmer gestanden und seinen Brief in vier Stücke zerrissen, dann in acht, dann in sechzehn, und hatte ihn wie Konfetti in den Mülleimer rieseln lassen. Genugtuung und eine gewisse Freude, diese Sache zu den Akten gelegt zu haben.
»Ich wollte sie nicht verlieren«, sagte sie. »Ich war lange, lange wütend auf dich, aber in diesem Moment hatte ich vor allem Angst, daß du sie mir wegnehmen würdest, wenn ihr euch sehen würdet. Deswegen habe ich nicht mehr geschrieben.«
»Das war nie meine Absicht.«
»Nichts von alledem war deine Absicht«, antwortete Caroline. »Die Dinge nehmen ihren Lauf, David.«
David Henry seufzte, und sie stellte sich ihn in ihrem verlassenen Apartment vor, wie er von Raum zu Raum ging und ihm klar wurde, daß sie für immer gegangen war. »Unterneh men |325| Sie nichts, ohne mir vorher Bescheid zu sagen«, hatte er gesagt. »Das ist alles, worum ich Sie bitte.«
»Wenn ich sie nicht zu mir genommen hätte«, fügte sie leise hinzu, »hättest du es dir vielleicht anders überlegt.«
»Ich habe dich nicht daran gehindert«, sagte er und traf wieder ihren Blick. Seine Stimme war rauh. »Ich hätte es tun können. Am Tag der Beisetzung hast du einen roten Mantel getragen. Ich habe dich gesehen, auch wie du später davongefahren bist.«
Caroline fühlte sich plötzlich ganz matt, fast wäre sie ohnmächtig geworden. Sie wußte nicht, was sie sich von diesem Abend versprochen hatte, aber als sie sich die Begegnung vorgestellt hatte, war ihr nicht der Gedanke gekommen, daß solche Spannungen entstehen könnten: Seine Verbitterung traf auf die ihre.
»Du hast mich gesehen?«
»Ich bin danach sofort zu dir gefahren. Ich dachte, daß ich dich dort finden würde.«
Caroline schloß ihre Augen und fühlte sich erschöpft. Zu dieser Zeit war sie auf der Schnellstraße gewesen, auf dem Weg hierher, in ihr heutiges Leben. David Henry mußte sie um Minuten, höchstens eine Stunde verpaßt haben. Wieviel war von diesem Augenblick abhängig gewesen, wie unterschiedlich hätte ihr Leben verlaufen können.
»Du hast mir noch immer nicht geantwortet«, sagte David und räusperte sich. »Bist du glücklich mit deinem Leben? Ist Phoebe glücklich? Ist sie gesund? Wie steht es um ihr Herz?«
»Ihrem Herzen geht es gut«, sagte Caroline und dachte an die ersten Jahre, in denen die Sorge über Phoebes Gesundheit nicht hatte abnehmen wollen – all diese Besuche beim Hausarzt, Zahnarzt, Herzspezialisten und Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Aber sie war gewachsen, ihr ging es gut, sie spielte Basketball in der Einfahrt und tanzte für ihr Leben gern. »Wenn es nach den Büchern ginge, die ich gelesen habe, als sie noch klein war, müßte sie heute schon tot sein. Aber |326| ihr geht es gut. Wahrscheinlich hatte sie viel Glück, sie hatte nie Probleme mit ihrem Herzen. Sie singt unheimlich gern. Sie hat eine Katze, die Rain heißt. Sie lernt zu weben. Genau das ist es, was sie gerade tut – sie ist zu Hause und webt.« Caroline schüttelte den Kopf. »Sie geht zur Schule. Eine öffentliche Schule, mit all den anderen Kindern. Dafür habe ich bis zum letzten gekämpft. Und jetzt, wo sie fast erwachsen ist, weiß ich nicht, was passieren wird. Ich habe eine gute Stelle. Ich arbeite halbtags im Krankenhaus, in der Inneren. Mein Mann ist viel unterwegs. Phoebe geht jeden Tag in eine betreute Gruppe. Sie hat viele Freunde dort. Man bringt ihr bei, im Büro zu arbeiten. Was wäre sonst noch zu
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