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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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steckte er den Umschlag beiläufig in die Tasche seines Jacketts, als enthielte er etwas Unwichtiges, eher Unangenehmes – eine Rechnung oder ein Zugticket.
    Sekunden später war sie draußen und eilte die Steintreppe hinunter in die Nacht.
    Es war Frühling, die Luft war feucht und frisch. Caroline war zu aufgewühlt, um auf den Bus zu warten. Sie ging zu Fuß, zügig, die Häuserblocks strichen vorbei, sie nahm den Verkehr und die Leute um sich herum nicht mehr wahr, auch die leichte Gefahr nicht, um diese Uhrzeit allein auf der Straße zu sein. Einzelne Momente blitzten vor ihrem inneren Auge auf, flüchtig und verworren, sonderbare, unzusammenhängende Details. Über seinem rechten Ohr war eine |329| Stelle mit dunklem Haar zu sehen gewesen, und seine Fingernägel hatte er bis zum Fleisch abgekaut. Die stumpfen Finger, an die erinnerte sie sich, aber seine Stimme hatte sich verändert, war ernster geworden. Es war beunruhigend: Die vielen Bilder, die sich all die Jahre im Gedächtnis festgebrannt hatten, waren in dem Augenblick ausgetauscht worden, in dem sie ihn gesehen hatte.
    Und sie selbst? Wie hatte sie auf ihn gewirkt? Was hatte er gesehen, was hatte er jemals von Caroline Gill gewußt? Von ihren geheimen Wünschen und Träumen? Nichts. Überhaupt nichts. Und sie hatte es gewußt, seit Jahren schon, von dem Moment der Beerdigung an, als sich der Kreis um sein Leben geschlossen und sie außerhalb gestanden hatte. Und doch hatte Caroline im tiefsten Inneren den dummen, romantischen Gedanken aufrechterhalten, daß David Henry sie einst so gut gekannt hatte, wie niemand anders es je tun würde. Aber es war nicht wahr. Er hatte nicht einmal einen Bruchteil von ihr gesehen.
    Fünf Häuserblocks hatte sie nun schon hinter sich gelassen. Es hatte angefangen zu regnen. Ihr Gesicht, ihr Mantel und ihre Schuhe waren naß. Die kühle Nacht hatte von ihr Besitz ergriffen, war zu ihrem Körper vorgedrungen. An einer Kreuzung hielt quietschend ein Bus der Linie 61B. Sie rannte, um ihn noch zu erwischen, setzte sich auf einen der kaputten Plastiksitze und fuhr sich durch die Haare. Scheinwerfer, Neonlichter und das verschwommene Rot der Rückleuchten bewegten sich hinter der Scheibe. Der Bus schlängelte sich durch die Straßen und beschleunigte, als er den dunklen Abschnitt des Parks erreichte, den langgestreckten Berg. An der Regent-Square-Station stieg sie aus. Aus einer Kneipe war anschwellendes Gemurmel und Geschrei zu hören, und durch die Scheibe erkannte sie schemenhaft die Spieler, die sie früher am Tag gesehen hatte – mit Biergläsern in der Hand und jubelnden Posen saßen sie nun um den Fernseher versammelt. Die Jukebox warf neonblaue Lichtstreifen |330| auf den Arm der Kellnerin, als sie sich vom Tisch, der nah beim Fenster stand, abwandte. Caroline hielt inne, der innere Aufruhr hatte sich plötzlich gelegt, hatte sich in der Frühlingsnacht aufgelöst wie morgendlicher Nebel. Mit einemmal spürte sie ihre Einsamkeit. In der Kneipe kamen Männer zusammen, um gemeinsam einer Sache nachzugehen, und die Menschen, die neben ihr auf dem Gehsteig entlanggingen, steuerten Orte an, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen.
    Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Fernsehbildschirm flackerte, und eine weitere Welle des Gelächters drang nach außen. Caroline riß sich los, rempelte eine Frau mit einer Einkaufstüte voller Lebensmittel an und sprang über einen kleinen Fastfood-Müllberg, den jemand auf dem Gehweg hinterlassen hatte. Weiter den Berg hinunter in die Allee, die zu ihrem Haus führte, leiteten sie die Lichter der Stadt zu den Menschen, die ihr vertraut waren: zu den O’Neills, wo ein goldener Schimmer sich über den Hornstrauch legte, zu den Soulards mit ihrem dunklen Gartenabschnitt und schließlich zum Rasen der Margolis, wo im Sommer die Mondblumen wild den Hang hinaufwuchsen, schön und ungeordnet. Wie Stufen führten die Häuser in einer Reihe den Berg hinunter, bis schließlich ihr eigenes kam.
    In der Allee blieb sie stehen und blickte auf das große, schmale Gebäude. Sie war sich sicher, daß sie die Jalousien geschlossen hatte, aber nun waren sie offen und boten einen freien Blick ins Eßzimmer. Der Kronleuchter strahlte über dem Tisch, auf dem Phoebe ihr Nähgarn ausgebreitet hatte. Über den Webstuhl gebeugt, zog sie das Schiffchen vor und zurück, ruhig und konzentriert. Rain hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt wie ein schlaffer orangefarbener Ball. Caroline betrachtete ihre

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