Die Tochter des Fotografen
sagen? Du hast dir viel Kummer erspart, ganz sicher. Aber du hast auch viele schöne Momente verpaßt, David.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Besser, als du es dir vorstellen kannst.«
»Und du?« fragte sie und erschrak wieder darüber, wie alt er geworden war. Gleichzeitig versuchte sie noch immer, sich über seine Anwesenheit hier in diesem kleinen Raum bewußt zu werden, nach all diesen Jahren. »Bist du glücklich mit deinem Leben? Ist Norah es? Und Paul?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er zögernd. »So glücklich, wie man eben sein kann, denke ich. Paul ist unglaublich intelligent. Er könnte wirklich alles machen. Aber er möchte auf die Juilliard gehen und dort Gitarre spielen. Ich glaube, er macht einen großen Fehler, aber Norah ist da anderer Meinung. Das hat für jede Menge Spannungen gesorgt.«
Caroline dachte an Phoebe – wie sie vor sich hin sang, während sie spülte oder den Boden wischte, wie sehr sie aus ganzem Herzen die Musik liebte und niemals die Möglichkeit hätte, Gitarre zu spielen.
»Und Norah?« fragte sie.
»Sie hat ein eigenes Reisebüro. Sie ist viel unterwegs – genau wie dein Mann.«
»Ein Reisebüro?« wiederholte Caroline. »Norah?«
|327| »Ich weiß. Mich hat es auch überrascht. Aber sie führt es nun schon seit Jahren. Mit großem Erfolg.«
Der Türknauf drehte sich, und die Tür ging einen Spalt weit auf. Der Kurator steckte seinen Kopf herein, und seine hellen blauen Augen waren voller Neugier und Besorgnis. Während er sprach, fuhr er sich mit einer Hand nervös durch sein dunkles Haar. »Dr. Henry?« sagte er. »Hier draußen stehen eine Menge Leute. Man erwartet, daß Sie sich, na ja, ein wenig unters Volk mischen. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
David sah Caroline an. Er zögerte, und gleichzeitig wurde er ungeduldig. Caroline wußte, daß es eine Frage von Sekunden war, bis David sich umdrehte, seine Krawatte richtete und ging. Etwas, das jahrelang bestanden hatte, würde in diesem Moment zu Ende gehen.
Nicht
, dachte sie sich, aber der Kurator räusperte sich und lachte so verschämt, daß David sagte: »Okay, ich komme sofort. Du bleibst doch, oder?« fragte er Caroline und führte sie am Ellenbogen hinaus.
»Ich muß nach Hause. Phoebe wartet auf mich.«
»Bitte.« Er blieb draußen vor der Tür stehen. Sie schaute in seine Augen und sah dieselbe Traurigkeit, dasselbe Mitleid, das sie von früher kannte, als sie beide noch sehr viel jünger und weniger desillusioniert gewesen waren. »Nach all den Jahren … wir haben uns noch so viel zu sagen. Bitte versprich mir, daß du bleibst. Es dauert nicht mehr lange.« Sie verspürte Übelkeit, ein Unwohlsein, das sie nicht näher bestimmen konnte, aber sie nickte kaum merklich, so daß David Henry lächelte. »Schön. Laß uns zu Abend essen, ja? Ich muß dieses vom Schicksal herbeigerufene Gespräch führen. Aber ich lag falsch all die Jahre. Ich will mehr als nur ein paar Brocken.«
Seine Hand ruhte auf ihrem Arm, und langsam tauchten sie wieder in der Masse unter. Caroline schien nichts sagen zu können. Menschen warteten, schauten freundlich und neugierig in ihre Richtung und tuschelten. Sie griff in ihre Tasche |328| und reichte David den Briefumschlag, der für ihn bestimmt war – die jüngsten Fotos von Phoebe. David nahm ihn entgegen, begegnete ihrem Blick und nickte ernst, bis ihn eine gutaussehende und leicht aggressive Frau aus dem Publikum am Arm faßte. Sie fragte erneut etwas zur Form.
Caroline blieb ein paar Minuten stehen und beobachtete ihn dabei, wie er mit der Frau sprach und vor einem Foto herumgestikulierte, das scheinbar die dunklen Zweige eines Baumes zeigte. Er hatte immer gut ausgesehen, und das war auch heute noch so. Zweimal schaute er in Carolines Richtung, und sobald er sie erspähte, konzentrierte er sich wieder ganz auf sein Gespräch. »Warte«, hatte er gesagt. »Bitte warte.« Und er ging davon aus, daß sie es tun würde. Wieder war ihr übel. Sie wollte einfach nicht warten. Sie hatte so oft gewartet, als sie jung gewesen war – darauf, daß man sie wahrnahm, auf Abenteuer, auf die Liebe. Und doch hatte ihr Leben erst begonnen, als sie mit Phoebe auf dem Arm das Kinderheim in Louisville verlassen, ihre Sachen gepackt hatte und weggezogen war. Warten war nie für etwas gut gewesen. Mit gesenktem Kopf stand David dort und nickte der Frau mit dem dunklen, wallenden Haar zu, während er den Briefumschlag hinter seinem Rücken umklammert hielt. Als Caroline wieder hinsah,
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