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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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nieder, unter seinen Händen die kalten Steine, und übergab sich in den wilden grauen Fluß, würgte, bis der Körper nichts mehr hervorbrachte. Lange Zeit kauerte er dort in der Dunkelheit. Schließlich stand er auf, ganz langsam, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und ging zurück in Richtung Stadt.

    *

    Die ganze Nacht saß er an der Greyhound-Endhaltestelle, döste weg und schreckte wieder hoch. Am Morgen nahm er den ersten Bus zu seinem Elternhaus nach West Virginia und fuhr noch weiter in die Berge hinein, die ihn umschlossen wie eine Umarmung. Nach sieben Stunden hielt der Bus, wo er immer gehalten hatte, an der Ecke zwischen Main und Vine. Dann röhrte er davon und ließ David Henry vor dem kleinen Lebensmittelladen zurück. In den Straßen war es still, Zeitungspapier flatterte an einem Telefonmast, und Unkraut wuchs aus den Rissen im Gehsteig heraus. Er hatte in diesem Laden gearbeitet, um sein Zimmer bezahlen zu können und über die Runden zu kommen. Das kluge Kind war aus den Bergen zum Lernen hierhergekommen und hatte über den Krach des Verkehrs und der Hupen gestaunt, über die einkaufenden Hausfrauen, über die Schulkinder, die sich am Brunnen tummelten, um Brause zu kaufen, über die Männer, die sich am Abend trafen, um Karten zu spielen, Tabak auszuspucken und sich mit Geschichten die langsam verstreichende Zeit zu vertreiben. Aber all dies gab es nun nicht mehr. Schwarz-rote Graffiti waren über die mit Sperrholz verriegelten Fenster geschmiert worden und unleserlich in den Fasern verblichen.
    Der Durst war wie ein Feuer in Davids Kehle. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielten zwei Männer mittleren Alters auf der Veranda Dame. Der eine war kahl, der andere hatte dünnes grauen Haar, was ihm bis zu den Schultern herabhing. Sie hoben den Blick, neugierig, mißtrauisch, |342| und für einen Augenblick sah David sich so, wie sie ihn sehen mußten – seine Hose voller Flecken und Falten, sein Hemd einen Tag und eine Nacht am Leib, seine Krawatte verschwunden, seine Haare plattgedrückt vom unruhigen Schlaf im Bus. Er hatte hier nichts zu suchen. Er hatte hier nie etwas zu suchen gehabt. Im engen Raum über dem Laden waren die Bücher auf seinem Bett ausgebreitet gewesen. Er hatte solches Heimweh gehabt, daß er sich nicht hatte konzentrieren können. Und doch nahm die Wehmut nicht ab, wenn er wieder in die Berge zurückkehrte. In dem kleinen Schindelhaus seiner Eltern, das massiv in den Berg gebaut war, zogen sich die Stunden in die Länge, wurden gemessen durch das Klopfen der väterlichen Pfeife am Stuhl, durch das Seufzen seiner Mutter und durch die Regungen seiner Schwester. Es gab das Leben jenseits des Flusses und das Leben diesseits des Flusses, doch die Einsamkeit öffnete sich ihm überall wie eine dunkle Blume.
    Er nickte den Männern zu, drehte sich um und spürte ihre Blicke, als er losschritt.
    Ein leichter Regen setzte ein, fein wie Nebel. Er ging zu Fuß, obwohl seine Beine schmerzten. Er dachte an sein helles Büro, das ein halbes Leben, ja Lichtjahre entfernt war. Es war schon später Nachmittag. Norah war jetzt noch bei der Arbeit, und Paul saß wahrscheinlich in seinem Zimmer und ließ seiner Einsamkeit und seiner Verbitterung in der Musik freien Lauf. Sie erwarteten ihn heute abend zurück, aber er würde nicht kommen. Er würde sie später anrufen müssen, sobald er wußte, was er vorhatte. Genausogut könnte er jetzt in den Bus steigen und sich sofort auf den Heimweg machen, darüber war er sich im klaren. Aber es schien ihm unmöglich, daß jenes Leben in derselben Welt existierte wie dieses.
    Der holprige Bürgersteig wurde am Stadtrand immer häufiger von Rasenflächen unterbrochen, es ergab sich ein alternierendes Muster, das etwas von einem Morsecode hatte. Intervallweise setzte es aus, bis es schließlich gar nicht mehr |343| zu sehen war. Am Rande der engen Straße flossen seichte Bachläufe, die er mit Seerosen bedeckt in Erinnerung hatte, einer sich aufstauenden orangefarbenen Masse, die wie Flammen über das Wasser trieb. Er steckte seine Hände unter die Arme, um sie zu wärmen. Hier herrschte noch eine andere Jahreszeit. Von der Pittsburgher Milde, dem warmen Regen und dem Flieder keine Spur. Eine Schneekruste krachte unter seinem Fuß. Er kickte die schwarzen Ränder in den Graben, wo weiterer Schnee lag, mit Spuren von Gräsern und Rollsplitt.
    Endlich erreichte er die Bundesstraße. Die rasenden Autos drängten ihn an den gräsernen

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