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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Großmutter und Mutter noch genäht hatten. Der Stoff war kühl und fühlte sich ein wenig feucht an. Es gab keine Matratze – nur eine dicke Schicht von Bettüchern, die über ein paar Bretter in den Bettrahmen gelegt worden waren. Der Dielenboden war frisch gewischt worden, und auf der Fensterbank standen in einem Glas drei Krokusse.
    Irgendwer lebte hier. Ein leichter Windzug strich durch den Raum und spielte mit den Scherenschnitten, die überall hingen – an der Decke, am Fenster, über dem Bett. David ging umher und begutachtete sie mit zunehmender Verwunderung. Ein bißchen ähnelten sie den papiernen Schneeflocken, die er in der Schule ausgeschnitten hatte, aber sie waren ungleich feiner und präziser, zeigten einzelne Szenen bis ins letzte Detail: einen Wochenmarkt, ein aufgeräumtes Wohnzimmer mit Kamin, ein Picknick mit Feuerwerk. So genau und akkurat, wie sie waren, verliehen sie dem alten Haus den |346| Charakter eines unergründlichen Geheimnisses. Er berührte den bogenförmigen Rand einer Heuwagenszene, in der die Mädchen Häubchen mit Spitzenborten trugen und die Jungen die Hosen bis zu den Knien umgekrempelt hatten. Riesenräder, fliegende Karussells, Autos auf Schnellstraßen, all dies hing über dem Bett und regte sich sacht, verletzlich wie Flügel.
    Wer hatte die Schnitte mit all diesem Können und dieser Geduld angefertigt? Er dachte an seine Fotografien; wie er mit viel Mühe versuchte, jeden Moment einzufangen, festzuhalten, ihn zu verewigen. Doch wenn die Bilder in der Dunkelkammer Gestalt annahmen, waren es schon nicht mehr dieselben. Stunden, Tage waren dann vergangen, und er war zu einem geringfügig anderen Menschen geworden. Und trotzdem hatte er unbedingt den flatterhaften Schleier festhalten, die Welt packen wollen, während sie verschwand. Einmal und dann wieder und wieder.
    Er setzte sich auf das harte Bett. In seinem Kopf hämmerte es noch immer. Er legte sich hin, zog die feuchte Decke zu sich hoch und blickte auf den leeren Tisch, den Ofen und das sanfte graue Licht in den Fenstern. Alles roch dumpf nach Schimmel. Die Wände waren mit Schichten von Zeitungspapier bedeckt worden, die begannen, sich abzulösen. Seine Familie war sehr arm gewesen; alle, die sie gekannt hatten, waren arm gewesen. Es war kein Verbrechen, aber genausogut hätte es eines sein können. Dies war der Grund, warum Dinge aufbewahrt wurden – alte Motoren, Blechbüchsen, Milchflaschen, die über die Wiesen und Berge verstreut lagen. Ein Zauberspruch für die Bedürfnisse, ein Ausweichmanöver vor den Wünschen. Als David zehn war, war ein Junge mit dem Namen Daniel Brinkerhoff in einen alten Kühlschrank gestiegen und drinnen erstickt. David erinnerte sich an die gedämpften Stimmen und an den Körper des Jungen, der in seinem Alter gewesen war, wie er in einer Hütte, ähnlich dieser hier, gelegen hatte, umstellt von brennenden Kerzen. |347| Die Mutter hatte geschluchzt, und er hatte keinen Sinn in alldem gesehen. Er war zu jung gewesen, um Trauer verstehen, um die Macht des Todes begreifen zu können. Aber er erinnerte sich, was der verbitterte Vater, der gerade seinen Sohn verloren hatte, in Hörweite seiner Mutter vor dem Haus gesagt hatte: »Warum mein Kind, er war gesund, er war stark, warum nicht dieses kranke Kind, wenn schon überhaupt jemand, warum nicht sie?«
    Er schloß seine Augen; es war unglaublich ruhig. Er dachte an all die Geräusche, die sein Leben in Lexington erfüllten, Schritte und Stimmen in den Gängen, das schrille Klingeln des Telefons in seinen Ohren, sein Notrufgerät, das zwischen die Töne des Autoradios funkte, und zu Hause immer die Musik, Pauls Gitarre und Norah am Telefon, das Kabel einmal um ihr Handgelenk gewickelt, während sie mit den Kunden telefonierte. Mitten in der Nacht dann noch weitere Anrufe, wenn er im Krankenhaus gebraucht wurde, wenn er kommen mußte. Dann stand er auf, in der Dunkelheit und Kälte, und eilte herbei.
    Hier war es anders. Hier hörte man nur das Rauschen der welken Blätter im Wind und in der Ferne das Gurgeln des Wassers unter der Eisdecke des zugefrorenen Baches. Ein Ast schlug gegen die Außenwand. Frierend bog er sich in die Höhe, damit er die Decke unter sich hervorziehen und sich zudecken konnte. Die Fotos in seiner Brusttasche stachen in seine Brust, so daß er sich umdrehte und die Decke noch fester an sich zog. Die Kälte und die Auswirkungen der Reise ließen ihn noch ein paar Minuten zittern, und wenn er die Augen schloß,

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