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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Seitenstreifen und bespritzten ihn mit Schneematsch. Dies war einmal eine ruhige Straße gewesen, man hatte die Autos schon gehört, bevor sie überhaupt zu sehen waren, Kilometer entfernt, und meistens war ein vertrautes Gesicht hinter der Windschutzscheibe gewesen, der Wagen wurde langsamer, hielt an, und die Tür öffnete sich, damit er einstieg. Man kannte ihn, kannte die Familie, und nach dem kurzen Smalltalk – »Wie geht’s deiner Mama, wie geht’s deinem Papa, wie ist die Ernte im Garten dieses Jahr?« – setzte ein Schweigen ein, bei dem Fahrer und Mitfahrer sich wohl überlegten, was noch gesagt und nicht gesagt werden durfte zu diesem klugen Jungen, der ein Stipendium erhalten hatte, zu dem Jungen mit der Schwester, die zu krank war, um zur Schule zu gehen. In den Bergen, vielleicht auf der ganzen Welt, gab es jene Theorie des Ausgleichs, die besagt, daß jedes Geschenk, das man erhält, mit einem Verlust einhergeht. »Du bist zwar der Klügere von euch beiden, dafür hat dein Cousin mehr Glück mit dem Aussehen gehabt.« Komplimente, verführerisch wie Blumen, ihre Kehrseiten gleichwohl dornig: Du bist vielleicht klug, dafür bist du aber auch ziemlich häßlich; du siehst zwar gut aus, aber ein Gehirn haben sie dir nicht gegeben. Die Abgeltung und Balance des Universums. David hörte bei allen Bemerkungen über sein Studium immer einen Vorwurf heraus – daß er |344| sich zuviel genommen, alles an sich gerissen hätte –, und im Wagen oder im Truck breitete sich dann ein Schweigen aus, das schon bald nicht mehr von einer menschlichen Stimme gebrochen werden zu können schien.
    Die Straße verlief in Schlangenlinien. June hatte sie »die tanzende Straße« genannt. Zu beiden Seiten wurden die Berge immer massiver, Wasserfälle stürzten herab, die Häuser wurden immer spärlicher und ärmer. Mobile Unterkünfte waren zu sehen, die im Berg prangten wie stumpfer Silberschmuck, in türkisen und gelben Farben, die zu einem hellen Braun ausblichen. Hier sah man den Bergahorn und den herzförmigen Felsen, die Kurve, an der drei weiße Kreuze in die Erde gerammt worden waren, geschmückt mit welken Blumen und verblichenen Bändern. Er drehte sich weg und folgte dem nächsten abzweigenden Weg, seinem Weg, nach oben. Der Pfad war zugewachsen und fast schon nicht mehr zu erkennen.
    Er brauchte fast eine Stunde, um das alte Haus zu erreichen, das durch die Witterung ein weiches Grau angenommen hatte. Das Dach hing in der Mitte des Firstes etwas durch, und ein paar Dachziegel fehlten. David blieb stehen. Die Vergangenheit holte ihn so gewaltsam ein, daß er glaubte, er müsse sie nun alle wiedersehen, seine Mutter, wie sie die Treppe mit einem Kessel herunterkommt, um Wasser für die Wäsche zu holen, seine Schwester, wie sie auf der Veranda sitzt, im Hintergrund das Geräusch einer spaltenden Axt aus der nicht einsehbaren Ecke, wo sein Vater das Brennholz zerkleinert. Er war zum College gegangen, June war gestorben, und seine Eltern waren hier so lange geblieben, wie es möglich gewesen war, hatten sich geweigert, diesen Flecken Erde zu verlassen. Doch das Glück war nicht auf ihrer Seite gewesen. Sein Vater starb, viel zu jung, und seine Mutter verschlug es schließlich in den Norden, wohin sie mit der Aussicht auf eine Arbeit in den Automobilwerken zu ihrer Schwester gezogen war. Vom College aus war David genau zweimal hierher |345| zurückgekehrt – seitdem nie wieder. Zu diesem Ort, der ihm so vertraut war wie der eigene Atem, der so weit von seinem Leben entfernt war wie der Mond.
    Es wurde windiger. Er schritt die Treppe hinauf. Die Tür hing schief in den Angeln und ließ sich nicht mehr schließen. Die Luft war kühl und muffig. Es war ein einzelner Raum, dessen Schlafbereich auf dem Dachboden durch den durchhängenden Dachbalken gefährdet war. Die Wände waren von Schimmel befallen. Durch eine kleine Spalte erspähte er den Himmel. Er hatte seinem Vater geholfen, dieses Dach zu decken – der Schweiß war ihre Gesichter heruntergelaufen und hatte ihre Hände glitschig gemacht, gegen die Sonne hatten sie die Hämmer erhoben und auf das frisch gesägte, duftende Zedernholz herabfahren lassen.
    Soweit David bekannt war, stand das Haus seit Jahren leer. Und doch sah er eine benutzte Pfanne auf dem alten Ofen, das kalte Fett zwar erstarrt, aber noch nicht ranzig, wie er bemerkte, als er sich kurz darüber beugte. In der Ecke stand ein altes eisernes Bett mit einer verschlissenen Steppdecke, wie sie seine

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