Die Tochter des Fotografen
Columbus oder Philadelphia? Aus all jenen Orten hatte sie ihm Briefe geschrieben, und dann war sie plötzlich aus diesem anonymen Publikum hervorgetreten, hatte ausgesehen wie immer und war doch auf eine bestimmte Weise viel älter, aufrechter und unerschrockener Von der Zartheit ihrer Jugend war nichts mehr zu sehen. »David, erkennst du mich nicht?« Er hatte sie erkannt, auch wenn er diese Erkenntnis nicht an sich heranlassen wollte.
Er suchte den Saal nach ihr ab und sah sie nicht mehr – ein Anflug von Panik ergriff ihn. Sie war den weiten Weg gekommen, sie hatte versprochen zu bleiben; sie würde sicher nicht einfach gehen. Jemand schritt mit einem Tablett voller Champagnergläser vorüber, und er nahm sich eins. Der Kurator tauchte wieder auf und stellte ihn den Sponsoren der Ausstellung vor. David bemühte sich, Intelligentes von sich zu geben, aber er dachte noch immer an Caroline, hoffte sie irgendwo am Ende des Saals auszumachen. Er hatte sie zurückgelassen in dem Glauben, daß sie auf ihn warten würde, aber nun erinnerte er sich mit Sorge an den lange zurückliegenden Morgen der Beerdigung, als Caroline in ihrem roten Mantel abseits gestanden hatte. Er rief sich die kühle Frühlingsluft und den sonnigen Himmel ins Gedächtnis und wie Paul unter der Decke in seiner Trage strampelte. Er erinnerte sich daran, wie er sie hatte gehen lassen.
»Entschuldigen Sie mich«, murmelte er und unterbrach den Redner. Entschlossen lief er über den harten Holzboden ins Foyer, wo er stehenblieb und sich umdrehte, um noch |335| einmal die Menge abzusuchen. Jetzt, wo er sie nach all diesen Jahren gefunden hatte, würde er sie bestimmt nicht wieder gehen lassen.
Aber sie war fort. Hinter den Fenstern leuchteten die Lichter der Stadt verführerisch, wie Pailletten verteilten sie sich auf den sich in sanften Wellenlinien erstreckenden Bergen. Irgendwo ganz in der Nähe machte Caroline Gill den Abwasch, schrubbte den Boden und hielt kurz inne, um aufzuschauen. Verlust und Kummer – wie Wellen rauschten sie durch seinen Körper, so mächtig, daß er sich an die Wand lehnte, seinen Kopf sinken ließ und gegen starke Übelkeit ankämpfte. Seine Emotionen waren übertrieben, unverhältnismäßig – immerhin hatte er all die Jahre vor sich hin gelebt, ohne Caroline Gill zu Gesicht zu bekommen. Er atmete tief durch, ging das Periodensystem durch, Silber, Kadmium, Indium, aber er konnte sich nicht beruhigen, seine Gefühle nicht zur Ordnung rufen.
David griff in seine Jackentasche und zog den Umschlag hervor, den sie ihm gegeben hatte. Vielleicht hatte sie eine Adresse hinterlassen, eine Telefonnummer. Im Umschlag befanden sich zwei Fotos, deren Farben langsam verblaßten und ins Graue übergingen. Auf dem ersten war Caroline zu sehen, sie lächelte und legte den Arm um das Mädchen neben ihr, das ein steifes, tailliertes blaues Kleid mit einer Schärpe trug. Sie standen im Freien vor der Mauer eines Hauses, und das Sonnenlicht bleichte die Szene etwas aus. Das Mädchen war kräftig; das Kleid stand ihr gut, ließ sie aber nicht anmutig erscheinen. Ihr Haar fiel in weichen Wellen an ihrem Gesicht hinab, sie lächelte fröhlich, und ihre Augen waren in ihrer Freude, in die Kamera oder auf die Person dahinter zu sehen, fast geschlossen. Ihr Gesicht war offen, schien sanft, und es war vielleicht nur der Winkel der Kamera, der ihre Augen leicht nach oben gerichtet erscheinen ließ. »Phoebes Geburtstag«, hatte Caroline auf die Rückseite geschrieben. »Süße Sechzehn.«
|336| Er schob das erste Foto hinter das zweite, jüngere. Wieder sah man Phoebe, diesmal spielte sie Basketball. Sie war im Begriff, auf den Korb zu werfen, ihre Füße hoben gerade vom Asphalt ab. Basketball – der Sport, dem Paul sich verweigerte. David schaute auf die Rückseite, sah sich den Umschlag noch einmal genau an, aber er fand keine Adresse. Er kippte seinen Champagner herunter und setzte sein Glas auf einem der Marmortische ab. Die Galerie war noch immer gut gefüllt, man hörte das Stimmengewirr der Gäste. David blieb im Eingang stehen und sah dem Treiben einen Moment mit unbeteiligter Neugier zu, als wäre er zufällig hier hereingestolpert, als hätte all das nichts mit ihm zu tun. Dann wandte er sich ab und trat hinaus in die milde, kühle, regenfeuchte Luft. Er steckte Carolines Umschlag mit den Fotos in seine Brusttasche und schritt einfach drauflos, ohne zu wissen, wohin.
Oakland, wo er aufs College gegangen war, hatte sich verändert
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