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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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dachte er an die beiden zusammentreffenden Flüsse, die sich vereinten, an das schwarze, sprudelnde Wasser. Nicht zu fallen, sondern zu springen – das war es, was kurz in der Luft gelegen hatte.
    Er schloß seine Augen. Nur für ein paar Minuten, um sich auszuruhen. Mit dem Geruch von Muff und Schimmel vermengte sich auch ein anderer, der Duft nach etwas Lieblichem, |348| Süßlichem. Seine Mutter hatte in der Stadt Zucker gekauft, und fast konnte er seinen Geburtstagskuchen schmecken, gelb und üppig, so reich und süß, daß es schien, als würde er in seinem Mund explodieren. Er sah die Nachbarn von unten, hörte die Stimmen, die durch den Hohlraum nach oben drangen, sah die Kleider der Frauen, in bunten und fröhlichen Farben, wie sie das hohe Gras streiften. Die Männer in ihren dunklen Hosen und Stiefeln, die Kinder, wie sie wild im Garten umherliefen und schrien. Und später kamen sie alle zusammen, es wurde Eiskrem gemacht, die in Salzlake unter der Veranda gelagert wurde, bis sie hartgefroren war, man den eisigen Metalldeckel öffnete und das kalte süße Eis in die Schüsseln häufte.
    Vielleicht hatte dieser Eiskrem-Tag nach Junes Geburt stattgefunden, vielleicht nach ihrer Taufe. June war genau wie alle anderen Babys gewesen, ihre kleinen Hände hatten in der Luft gezappelt und sein Gesicht gestreift, wenn er sich zu ihr heruntergebeugt hatte, um sie zu küssen. In der Hitze dieses Sommertags hatten sie gefeiert und Eis unter der Veranda gekühlt. Der Herbst kam, der Winter, und June konnte und konnte sich nicht aufrichten. Schließlich nahte ihr erster Geburtstag, und sie war zu schwach, um sich auch nur wenige Meter zu bewegen. Wieder wurde es Herbst, und eine Cousine kam mit ihrem Sohn zu Besuch, der im gleichen Alter war, und er rannte durch die Zimmer und quasselte drauflos, während June noch immer dasaß und still die Welt betrachtete. An diesem Tag wußten sie, daß etwas nicht stimmte. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter den kleinen Jungen anschaute und ihr eine lange Zeit still die Tränen die Wangen herunterliefen, bis sie schließlich tief Luft holte und ins Zimmer zurückkehrte. Dies war der Kummer, den er immer schon mit sich getragen hatte, schwer wie ein Stein in seinem Herzen. Dies war der Kummer, den er Norah und Paul hatte ersparen wollen – um damit noch viel mehr Kummer hervorzurufen.
    |349| »David«, hatte seine Mutter an diesem Tag gesagt, während sie sich flink die Tränen trocknete, weil sie nicht wollte, daß er sie weinen sah. »Nimm diese Zeitungen vom Tisch, und hol draußen Kaminholz und Wasser. Und bitte sofort. Mach dich mal nützlich.«
    Und das hatte er getan. Sie hatten alle durchgehalten, diesen Tag und jeden weiteren. Sie hatten sich von allen zurückgezogen und trafen keine anderen Leute, außer zu seltenen Gelegenheiten wie Taufen oder Beerdigungen, bis zu dem Tag, an dem Daniel Brinkerhoff im Kühlschrank gestorben war. Mitten in der Nacht kamen sie von der Totenwache zurück und gingen den finsteren Weg am Bachlauf aus dem Gedächtnis entlang. June lag in den Armen seines Vaters, und seine Mutter hatte die Berge nie wieder verlassen, bis zu dem Tag, an dem sie nach Detroit zog.
    »Denk bloß nicht, daß du dich irgendwie nützlich machen kannst«, sagte eine Stimme, und David, der im Halbschlaf war und nicht wußte, ob er träumte oder wirklich Stimmen im Wind hörte, bewegte sich, als man an seinen Handgelenken zerrte, und fuhr sich mit seiner Zunge über die Oberlippe. Ihr Leben war anstrengend, die Tage waren lang und voller Arbeit, und es gab keine Zeit, keine Geduld für den Kummer. Das Leben mußte weitergehen, das war die einzige Devise, und da June nicht dadurch zurückkehren würde, daß sie über sie sprachen, redeten sie nicht mehr von ihr. David drehte sich auf die andere Seite, und seine Handgelenke schmerzten. Dann schreckte er hoch und blickte verschlafen im Raum herum.
    Sie stand am Herd, nur ein, zwei Meter entfernt, eine olivfarbene Arbeitshose saß eng um ihre schmalen Hüften und wurde an den Oberschenkeln etwas weiter. Sie trug einen Pullover, dessen Rostbraun von hellen orangefarbenen Streifen durchzogen wurde, darüber ein grün-schwarz kariertes Männerflanellhemd. Die Fingerspitzen ihrer Handschuhe waren abgeschnitten, und sie machte sich flink am Herd zu schaffen, indem sie ein paar Eier aufschlug.
    |350| Draußen war es mittlerweile dunkel – er hatte lange geschlafen. Kerzen waren über den ganzen Raum verteilt, die ihn in

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