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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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heiße David Henry McCallister.« Sein wahrer Name, der so lange unausgesprochen geblieben war.
    »Ich kenne keine McCallisters«, sagte sie. »Aber ich komme auch nicht hier aus der Gegend.«
    »Wie alt bist du? So um die Fünfzehn?«
    »Sechzehn«, verbesserte sie ihn. Dann sagte sie schnippisch: »Sechzehn, zwanzig oder vierzig – suchen Sie sich was aus.«
    »Sechzehn«, wiederholte er. »Ich habe einen Sohn, der älter ist als du. Paul.« Einen Sohn, dachte er. Und eine Tochter.
    »Tatsächlich?« sagte sie gleichgültig.
    Sie griff wieder zur Gabel, und er sah ihr dabei zu, wie sie das Rührei sorgfältig kaute, und mit großer Macht schoß eine weitere Erinnerung in seinen Kopf, seine Schwester June betreffend, die auf dieselbe Art und Weise Rührei aß. Es war |353| das Jahr gewesen, als sie gestorben war, und es war ihr immer schwerer gefallen, aufrecht am Tisch zu sitzen, doch sie hatte es trotzdem getan, jeden Abend das Abendessen mit ihnen eingenommen, der Lampenschein in ihrem blonden Haar, die langsamen und doch anmutigen Bewegungen ihrer Hände.
    »Warum bindest du mich nicht los?« schlug er leise vor. »Ich bin nur ein Arzt. Völlig harmlos.«
    »Gut.« Sie stand auf und trug ihren leeren blauen Teller zur Spüle.
    Als sie sich umdrehte, um die Seife vom Regal zu nehmen, sah er sie im Profil und stellte bestürzt fest, daß sie schwanger war. Noch nicht sehr lange, vielleicht im vierten oder fünften Monat, schätzte er.
    »Hör zu, ich bin wirklich Arzt. In meinem Portemonnaie ist meine Karte. Du kannst nachschauen.«
    Sie antwortete nicht. Sie wusch ihren Teller und die Gabel ab und trocknete sich ihre Hände sorgfältig mit einem Handtuch. David dachte daran, wie seltsam es war, daß er an diesem Ort war, hier, wo er geboren worden und größtenteils aufgewachsen war; und wie seltsam es war, daß seine Familie vollständig verschwunden war und dieses Mädchen ihn ans Bett gefesselt hatte.
    Sie durchquerte den Raum und zog ihm das Portemonnaie aus der Tasche. Den Inhalt breitete sie auf dem Tisch aus. Bargeld, Kreditkarten, verschiedenste Rechnungen und einzelne Notizzettel.
    »Hier steht, daß Sie Fotograf sind«, sagte sie, während sie seine Karte im flackernden Licht las.
    »Stimmt«, sagte er. »Auch. Aber such weiter.«
    »Okay«, sagte sie einen Moment später, als sie seinen Personalausweis hochhielt. »Sie sind also Arzt. Na und? Welchen Unterschied macht das?«
    Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie klemmte sie hinters Ohr.
    |354| »Das heißt, daß ich dir nichts tun werde, Rosemary. Das ist das oberste Gebot: Füge niemandem Schaden zu.«
    Sie schaute kurz und abwägend zu ihm herüber. »Das würden Sie immer sagen. Auch wenn Sie mir etwas antun wollten.«
    Er musterte sie – das ungekämmte Haar und ihre klaren dunklen Augen. »Ich habe Fotos dabei«, sagte er. »Irgendwo hier …« Er verlagerte sich und spürte die spitze Kante des Briefumschlags durch den Stoff seiner Hemdtasche. »Nur zu. Sieh sie dir an. Es sind Bilder von meiner Tochter. Sie ist ungefähr in deinem Alter.«
    Als sie ihre Hand in seine Tasche gleiten ließ, spürte er wieder ihre Wärme, roch ihren Duft: natürlich, aber sauber. Was hieß eigentlich süßlich, fragte er sich und dachte an seinen Traum und an das Tablett mit Windbeuteln, die zu Beginn der Ausstellung umhergereicht worden waren.
    »Wie heißt sie?« fragte Rosemary, während sie zunächst das eine, dann das andere Foto begutachtete.
    »Phoebe.«
    »Phoebe. Das klingt schön. Und sie ist es auch. Ist sie nach ihrer Mutter benannt?«
    »Nein«, sagte David und erinnerte sich an die Nacht ihrer Geburt, wie Norah ihm kurz vor der Entbindung die Namen gesagt hatte, die sie sich für ihr Kind wünschte. Caroline hatte dies mitbekommen. »Sie ist nach ihrer Großtante benannt worden. Mütterlicherseits. Ich kannte diese Frau nicht.«
    »Ich wurde nach meinen beiden Großmüttern benannt«, sagte Rosemary leise. Wieder fiel ihr das dunkle Haar ins Gesicht, und sie strich es zurück. Sie verweilte mit dem behandschuhten Finger an ihrem Ohr, und David stellte sich vor, wie sie mit ihrer Familie um einen erleuchteten Tisch saß. Er hätte am liebsten seinen Arm um sie gelegt, sie mit nach Hause genommen, sie beschützt.
    »Rose väterlicherseits und Mary von der Seite meiner Mutter.«
    |355| »Weiß deine Familie, wo du steckst?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht

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