Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
dorthin zurück.« Kummer und Zorn schwangen in ihrer Stimme mit. »Ich kann auf keinen Fall dorthin zurück. Und ich gehe auch nicht.«
    Sie sah sehr jung aus, wie sie da am Tisch saß, wie sie ihre Hände zu losen Fäusten ballte, mit dunkler, sorgenvoller Miene. Was hatte sie wohl fortgetrieben?
    »Warum nicht?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf und tippte auf Phoebes Foto. »Sie ist also in meinem Alter, sagen Sie?«
    »Fast. Schätze ich mal. Sie wurde am 7. März 1964 geboren.«
    »Ich bin im Mai 1966 geboren.« Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Fotos wieder ablegte. »Meine Mutter wollte eine Party für mich organisieren. Süße Sechzehn. Sie mag diese pinken Rüschenkleider.«
    David sah, wie sie schluckte, ihre Haare wieder hinters Ohr strich und aus dem dunklen Fenster starrte. Er wollte sie gern irgendwie trösten, wie er so oft hatte andere trösten wollen – June und seine Mutter und Norah –, doch jetzt wie damals war er dazu nicht imstande. Stillstand und Bewegung: Es gab hier etwas, das er herausfinden mußte, doch seine Gedanken trieben in alle Richtungen. Er fühlte sich gefangen, so als wäre er in der Zeit festgefroren wie eines seiner Bilder. Der Moment, der ihn gefangenhielt, war tiefgründig und schmerzvoll. Ein einziges Mal hatte er um June geweint – als er mit seiner Mutter im rauhen Abendwind am Hang gestanden hatte, die Bibel in der Hand, und über der frisch umgegrabenen Erde Verse verlesen hatte. Er hatte mit seiner Mutter geweint, die von diesem Tag an den Wind haßte, und danach verbargen sie ihren Kummer wieder und gingen zur Tagesordnung über. So war der Lauf der Dinge – und sie stellten ihn nicht in Frage.
    »Phoebe ist meine Tochter«, sagte er, erstaunt, sich selbst reden zu hören, und doch jenseits aller Vernunft gezwungen, seine Geschichte zu erzählen, dieses Geheimnis, das er so |356| viele Jahre für sich behalten hatte. »Aber ich habe sie seit dem Tag ihrer Geburt nicht wiedergesehen.« Er zögerte, zwang sich dann aber, es zu sagen: »Ich habe sie weggegeben. Sie hat das Downsyndrom. Das heißt, daß sie zurückgeblieben ist. Deswegen habe ich sie weggegeben. Ich habe es nie jemandem erzählt.«
    Rosemarys Blick verriet, wie schockiert sie war. »Ich finde, das war ein schlimmer Fehler«, sagte sie.
    »Ich auch.«
    Sie schwiegen lange Zeit. Wo immer David hinsah, wurde er an seine Familie erinnert. Junes warmer Atem an seiner Wange, seine Mutter, die singend die Wäsche auf dem Tisch faltete, die Geschichten seines Vaters, die zwischen diesen Mauern hallten. Verschwunden, all das war verschwunden, wie auch seine Schwester. Aus alter Gewohnheit kämpfte er gegen den Kummer an, doch Tränen rollten seine Wangen herab, er konnte sie nicht aufhalten. Er weinte um June, und er weinte um Phoebe, die er in Caroline Gills Hände gegeben hatte. Rosemary saß am Tisch, ernst und still. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und er hielt ihrem stand. Ein merkwürdig intimer Augenblick. Er erinnerte sich daran, wie Caroline ihn vom Flur aus betrachtet hatte, als er aus dem Schlaf aufgetaucht war, ihre Züge voll zärtlicher Zuneigung. Er hätte mit ihr die Stufen des Museums heruntergehen und in ihr Leben zurückkehren können, doch auch diesen Moment hatte er verpaßt.
    »Es tut mir leid«, sagte er und versuchte sich zusammenzureißen. »Ich war hier schon so lange nicht mehr.«
    Sie antwortete nicht, und er fragte sich, ob sie ihn für verrückt hielt. Er holte tief Luft. »Wann wird das Baby dasein?«
    Ihre dunklen Augen wurden vor Überraschung ganz groß. »So in fünf Monaten, denke ich.«
    »Du hast ihn verlassen, oder?« sagte David langsam. »Dei nen Freund. Wollte er das Kind nicht?«
    Sie drehte sich weg, doch er sah noch, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
    |357| »Es tut mir leid«, sagte er plötzlich. »Ich wollte nicht neugierig sein.«
    Sie schüttelte zaghaft den Kopf. »Ist schon okay. Nicht so schlimm.«
    »Wo kommst du her?« fragte er weiter mit leiser Stimme. »Wo ist dein Zuhause?«
    »Pennsylvania«, erwiderte sie nach einer längeren Pause. Sie holte tief Luft, und David begriff, daß seine Geschichte und sein Kummer es ihr ermöglichten, ihren eigenen zu offenbaren. »Nicht weit von Harrisburg. Eine Tante von mir wohnte hier. Die Schwester meiner Mutter. Sue Wallis. Sie lebt mittlerweile nicht mehr. Aber als Kinder kamen wir immer hierher, an diesen Ort. Wir kletterten die Berge hoch, und dieses Haus stand immer leer. Wir kamen

Weitere Kostenlose Bücher