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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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meine es ernst, Paul. Ich hab zur Zeit genug Sachen am Hals.«
    »Alles klar«, krächzte er. »Werd ich machen.«
    Sie stand einen Augenblick da und sagte nichts. »Es ist nicht einfach«, sagte sie schließlich. »Es ist auch für mich nicht einfach. Ich würde ja bei dir bleiben, aber ich habe Bree versprochen, sie zum Arzt zu fahren.«
    Aufmerksam geworden durch ihre trübe Stimme, stützte er sich auf die Ellenbogen. »Geht es ihr gut? Ist alles in Ordnung?«
    Seine Mutter nickte, doch sie schaute aus dem Fenster und vermied seinen Blick. »Ich glaube schon. Aber es werden ein paar Untersuchungen vorgenommen, deswegen ist sie ein wenig besorgt. Was ganz normal ist. Ich habe ihr letzte Woche versprochen, sie zu begleiten. Bevor das alles mit deinem Vater passiert ist.«
    »Ist schon okay«, sagte Paul und erinnerte sich daran, daß er krächzen mußte. »Du mußt mit ihr gehen. Ich komme schon zurecht.« Er sprach mit großer Selbstsicherheit, aber insgeheim hoffte er, daß sie nicht auf ihn hören würde, daß sie statt dessen zu Hause bleiben würde.
    »Es dürfte nicht lange dauern. Ich bin gleich wieder hier.«
    »Wo ist Dad?«
    |363| Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab nicht die geringste Ahnung. Nicht hier. Aber ist das was Neues?«
    Paul antwortete nicht, legte sich nur wieder hin und schloß die Augen. Nicht unbedingt, dachte er. Überhaupt nicht.
    Seine Mutter legte sanft ihre Hand auf seine Wange, doch er regte sich nicht. Dann war sie fort. Unten hörte man die Türen knallen; Brees Stimme drang aus dem Flur hoch. In den letzten Jahren waren seine Mutter und Bree sehr eng zusammengerückt, so eng, daß sie sich mehr und mehr glichen. Auch Bree hatte Strähnchen in den Haaren und eine Aktentasche in der Hand. Sie war noch immer eine coole und starke Person, sie war noch immer diejenige, die das Risiko eingegangen war, diejenige, die ihm gesagt hatte, er solle auf sein Herz hören und sich für Juilliard bewerben, wie er es gern wollte. Jeder mochte Bree – ihre Abenteuerlust, ihre Lebensfreude; sie brachte viel Schwung in den Alltag. Sie und seine Mutter seien zwei komplementäre Kräfte, hatte sie einmal gesagt. Paul konnte das bestätigen. Jetzt vermischten sich ihre Stimmen, legten sich übereinander, und schließlich lachte seine Mutter ihr unglückliches Lachen, und die Tür fiel ins Schloß. Er stand auf und reckte sich. Frei.
    Das Haus war ruhig, nur der Warmwasserzubereiter tickte. Paul ging die Treppe hinunter und stand im kalten Licht des Kühlschranks, aß Makkaroni und Käse mit den Fingern aus der Tupperdose und begutachtete die Fächer. Im Eisfach fand er sechs Schachteln Pfadfinderkekse, dünn und mit Minze gefüllt. Er aß ein paar und spülte die kühlen Schokoladentafeln mit Milch herunter, die er direkt aus der Tüte trank. Er nahm noch ein paar mehr und schwenkte die Milchtüte in seiner Hand, als er zurück durchs Wohnzimmer – wo auf der Couch die Bettwäsche seines Vaters akkurat gestapelt lag – Richtung Gästezimmer ging.
    Noch immer war das Mädchen dort und schlief. Er stopfte sich einen weiteren Keks in den Mund und ließ die Schokolade und Minze langsam im Mund zergehen, während er sie |364| sich genau ansah. Obwohl sich seine Eltern gestritten hatten, war nun die Beklemmung, daß sein Vater irgendwo tot herumliegen könnte, daß er für immer verschwunden sein könnte, nicht mehr da. Er dachte wieder an die gestrige Szene: Sein Vater, in einem weißen, seit Tagen ungewaschenen Hemd, die Anzughose voller Matschflecken, schlaff und triefend naß, mit einem Vollbart im Gesicht und ungekämmt. Seine Mutter, in Pantoffeln und ihrem pfirsichfarbenen Satinbademantel, der sich um ihre verschränkten Arme schwang. Ihre Augen, die zwischen seinem Vater und diesem Mädchen hin und her wanderten, dieser Fremden, die mit einem viel zu großen Mantel in der Tür stand und mit den Fingerkuppen die Ärmelbünde umfaßte. Die Stimmen seiner Eltern, die sich vermischten, lauter wurden. Das Mädchen hatte aufgeschaut, über den aufbrausenden Ärger hinweg. Ihre Blicke hatte sich getroffen. Er hatte sie angestarrt und gemustert: ihre Blässe und ihren unsicheren Blick, ihre so zart geschwungenen Ohren. Ihre Augen waren von einem ganz klaren Braun, wirkten sehr müde. Er wäre am liebsten die Stufen hinabgegangen und hätte ihr Gesicht schützend in seine Hände genommen.
    »Tagelang«, hatte seine Mutter gesagt, »und dann kommst du nach Hause und siehst aus wie – mein Gott, David, sieh

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