Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
er aufgewachsen ist. Ich habe da gelebt. Es gab keinen anderen Ort, wo ich hätte hingehen können«, fügte sie hinzu und sah auf den Boden.
    Irgend etwas ergriff Besitz von Paul, Emotionen, die er nicht orten konnte. Vielleicht war er eifersüchtig, daß dieses Mädchen, diese dünne blasse Fremde mit den schönen Ohren, an einem Ort gewesen war, der seinem Vater wichtig war, den er selbst nie gesehen hatte. »Irgendwann gehe ich mit dir dorthin«, hatte sein Vater ihm versprochen, doch das war Jahre her, und es war nie wieder die Rede davon gewesen. Und doch hatte Paul es nie vergessen – wie sein Vater sich inmitten der Unordnung seiner Dunkelkammer auf den Boden gesetzt hatte und die Fotos einzeln aufgehoben hatte, vorsichtig, übervorsichtig. »Meine Mutter, Paul, deine Großmutter. Ihr Leben war hart. Ich hatte eine Schwester, weißt du das eigentlich? Sie hieß June. Sie konnte sehr gut singen, war sehr musikalisch, genau wie du.« Bis zum heutigen Tag konnte er sich daran erinnern, wie sein Vater an diesem Morgen gerochen hatte, frisch, schon umgezogen fürs Krankenhaus – und doch hatte er noch auf dem Boden in der Dunkelkammer gesessen, mitteilsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Er hatte eine Geschichte erzählt, die Paul nie zu Ohren gekommen war.
    »Mein Vater ist Arzt«, sagte Paul. »Er hilft Menschen eben gern.«
    |370| Sie nickte und schaute ihm genau ins Gesicht, ihr Blick voller … Mitleid mit ihm – das war es, was er darin las, und die schmale, heiße Stichflamme drang bis in seine Fingerspitzen.
    »Was ist?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Du hattest recht. Ich brauchte Hilfe. Das war alles.«
    Eine Strähne löste sich aus ihrem Pferdeschwanz und fiel ihr ins Gesicht, tiefdunkel mit rötlichem Schimmer, und er dachte daran, wie weich ihr Haar gewesen war, als er es im Schlaf berührt hatte, weich und warm, und er widerstand dem Bedürfnis, sich hinüberzulehnen und es ihr hinters Ohr zu streichen.
    »Mein Vater hatte eine Schwester«, sagte Paul und erinnerte sich an die Geschichte sowie die sanfte, ruhige Stimme seines Vaters. Er wollte jetzt unbedingt wissen, ob sie da gewesen war.
    »Ich weiß. June. Sie liegt an einem Hang oberhalb des Hauses begraben. Dort sind wir auch hingegangen.«
    Die kleine Stichflamme breitete sich aus und ließ seinen Atem kurz und flach werden. Warum sollte es ihm etwas ausmachen, daß sie das wußte? Was für einen Unterschied machte es? Und doch kam er nicht dagegen an, sie sich dort vorzustellen, wie sie den Hang hinaufging und seinem Vater an den Ort folgte, den er nie gesehen hatte.
    »Na und?« sagte er. »Dann bist du halt da gewesen. Und?«
    Einen kurzen Moment schien es, als wolle sie antworten, doch dann drehte sie sich weg und ging durch den Raum in die Küche. Ihr dunkles Haar federte auf ihrem Rücken nach. Ihre Schultern waren schmal und fein, und sie ging langsam, mit der bedächtigen Anmut einer Tänzerin.
    »Warte«, rief Paul ihr hinterher, doch als sie stehenblieb, wußte er nicht, was er sagen sollte.
    »Ich brauchte ein Dach über dem Kopf«, sagte sie sanft und blickte über ihre Schulter zurück. »Das ist alles, was es über mich zu wissen gibt, Paul.«
    |371| Er sah sie in die Küche gehen und hörte, wie der Kühlschrank sich öffnete und wieder schloß. Dann ging er nach oben und holte den Ordner hervor, den er in der untersten Schublade versteckt hielt. Der voller Fotos war, die er zurückbehalten hatte, als er in jener Nacht mit seinem Vater gesprochen hatte.
    Er nahm die Bilder und seine Gitarre und ging ohne T-Shirt und barfuß nach draußen auf die Veranda. Er setzte sich auf die Schaukel und fing an zu spielen; er ließ das Mädchen, das drinnen durch die Räume lief, nicht aus den Augen. Durch die Küche, durchs Wohnzimmer, durchs Eßzimmer. Aber viel war es nicht, was sie machte, sie aß nur etwas Joghurt und stand dann eine ganze Weile vor dem Bücherregal seiner Mutter, bis sie einen Roman herausgriff und sich auf die Couch setzte.
    Er spielte weiter. Nichts beruhigte ihn so sehr wie die Musik. Er fand sich in Sphären wieder, wo sich seine Hände über seinen eigenen Willen hinwegsetzten. Die nächste Note zum Greifen nah, danach die nächste und wieder die nächste. Das Stück war zu Ende, er hielt mit geschlossenen Augen inne und ließ die Töne verhallen.
    Nie wieder. Nicht diese Musik, nicht dieser Moment. Nie wieder.
    »Wow.« Als er seine Augen öffnete, lehnte sie im Türrahmen. Sie drückte die

Weitere Kostenlose Bücher