Die Tochter des Fotografen
hierher, um zu spielen. Das war die schönste Zeit. Dies war der schönste Ort, den ich mir vorstellen konnte.«
Er schwieg, und das Rauschen des Waldes kam ihm in den Sinn. Sue Wallis. Ein Bild entstand, eine Frau, die den Berg heraufkam und einen Pfirsichkuchen unter einem Tuch trug.
»Bind mich los«, sagte er, noch immer leise.
Sie lachte verbittert und wischte sich die Augen. »Warum?« fragte sie. »Warum sollte ich das tun, wo wir beide hier alleine sind und niemand mir helfen könnte. Du hältst mich wohl für total bescheuert?«
Sie stand auf und holte ihre Schere und einen kleinen Papierstreifen vom Regal über dem Herd. Weiße Schnipsel flatterten durch die Gegend, während sie schnitt. Ein Wind ging durch den Raum, und die Flammen der Kerzen flackerten. Ihr Gesicht war unbeweglich, resolut, konzentriert und bestimmt, genau wie Pauls, wenn er Gitarre spielte, sich Davids Welt entgegensetzte, um einen anderen Ort aufzusuchen. Ihre Schere blitzte auf, und ein Muskel zuckte irgendwo in ihrem Kiefer. Es war ihm zuvor nicht in den Sinn gekommen, daß sie ihm etwas antun könnte.
|358| »Diese Papiersachen, die du machst, sind sehr schön.«
»Das hat mir meine Oma Rose beigebracht. Man nennt es Scherenschnitte. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen, wo sie vermutlich den ganzen Tag nichts anderes tun.«
»Sie macht sich sicher Sorgen um dich.«
»Sie ist tot. Sie ist letztes Jahr gestorben.« Rosemary schwieg und konzentrierte sich auf das Schneiden. »Ich mache das gerne. Es hilft mir, mich an sie zu erinnern.«
David nickte. »Hast du am Anfang eine Idee?«
»Es steckt schon im Papier drin«, sagte sie. »Ich denke mir nichts aus – ich finde es einfach.«
»Man findet es, stimmt.« Er nickte. »Das verstehe ich. So ist es auch bei meinen Fotos. Sie sind schon da – ich brauche sie nur aufzuspüren.«
»Genau«, sagte Rosemary und wendete das Papier. »Ge nauso ist es.«
»Was hast du mit mir vor?« fragte er.
Sie schwieg und schnitt weiter.
»Ich müßte mal pinkeln.«
Er hatte gehofft, sie damit zum Reden zu bringen, andererseits war es die quälende Wahrheit. Sie taxierte ihn einen Moment. Dann legte sie die Schere beiseite und verschwand ohne ein Wort. Er hörte sie draußen umhergehen, im Dunkeln. Mit einem leeren Erdnußbutterglas kehrte sie zurück.
»Hör zu, Rosemary. Bitte bind mich hier los.«
Sie stellte das Glas ab und griff wieder zur Schere. »Wie konntest du sie weggeben?«
Auf den Klingen der Schere spiegelte sich das Licht. David erinnerte sich an das Blitzen des Skalpells, als er den Dammschnitt vorgenommen hatte, wie er aus sich selbst herausgetreten war, um die Szene von oben zu betrachten, wie die Ereignisse dieser Nacht sein Leben in Gang gesetzt hatten, wie eines zum anderen geführt hatte, wie sich Türen geöffnet, wo vorher noch gar keine gewesen waren, und sich andere geschlossen hatten, bis er plötzlich hier an diesem |359| bestimmten Moment angekommen war – bei einer Fremden, die sich daranmachte, die verborgene Form des Papiers freizulegen, die darauf wartete, daß er antwortete. Und er konnte nichts dagegen tun, nirgendwohin flüchten.
»Ist es das, was dir Sorgen bereitet?« fragte er. »Daß du dein Baby weggeben könntest?«
»Niemals. Das werde ich niemals tun«, sagte sie scharf und mit bestimmtem Gesichtsausdruck, als hätte ihr das jemand in irgendeiner Form angetan, als hätte man einst sie über Bord geworfen und wie Treibgut in der Welt ausgesetzt. Sechzehn, schwanger und allein an diesem Tisch sitzend.
»Ich habe eingesehen, daß es falsch war«, sagte David. »Aber da war es schon zu spät.«
»Es ist nie zu spät.«
»Du bist sechzehn. Glaub mir, manchmal ist es zu spät.«
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich für einen kurzen Moment, und sie antwortete nicht. Sie schnitt einfach weiter, und David begann wieder zu sprechen, in die Stille hinein, versuchte zunächst vom Schneesturm zu erzählen, vom Schock, vom blitzenden Skalpell im grellen Licht. Wie er neben sich gestanden und sich selbst dabei zugesehen hatte, wie er durch die Welt schritt. Wie er die letzten sechzehn Jahre seines Lebens jeden Morgen aufgewacht war und sich gedacht hatte, daß vielleicht heute der Tag wäre, an dem er alles in Ordnung bringen würde.
Aber Phoebe war fort, und er konnte sie nicht finden – wie sollte er es Norah dann erzählen?
Das Geheimnis hatte ihre Ehe zerfressen, ein heimtückisches, wucherndes Gewächs, und so hatte sie angefangen, zu
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