Die Tochter des Fotografen
Entschiedenheit, mit der sie ihre Angst verbarg. »Mein Vater hat für mich eine Art gesicherte Karriere vorgesehen. Mein Wunsch, Musiker zu werden, macht ihn krank.«
»Das weißt du doch gar nicht«, sagte sie und schaute streng zu ihm auf. »Du weißt wirklich überhaupt nichts über deinen Vater.«
Paul hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte, und so saßen sie ein paar Minuten schweigend nebeneinander. Ein Gitter aus Gebüsch schirmte sie von der Straße ab, und die violetten und weißen Pflanzen standen in voller Blüte. Nacheinander fuhren die Autos seiner Eltern die Einfahrt hoch. Ungewöhnlicherweise kamen sie mitten am Tag nach Hause. Rosemary und er sahen sich an. Die Autotüren schlugen, und das Haus gab das Echo wieder. Dann hörte man Schritte und die leisen, ernsten Stimmen seiner Eltern. Rosemary öffnete ihren Mund, als wolle sie sich bemerkbar machen, doch Paul wehrte mit der Hand ab und schüttelte den Kopf, so daß sie weiter still dasaßen und zuhörten.
»Weißt du eigentlich, was du uns mit diesem Tag, mit dieser ganzen Woche angetan hast?« sagte seine Mutter.
»Es tut mir leid. Du hast recht. Ich hätte anrufen sollen. Ich wollte es auch tun.«
»Und du meinst, damit wäre es getan? Vielleicht gehe ich demnächst auch mal. Einfach so. Vielleicht verschwinde ich einfach und komme mit einem gutaussehenden Mann wieder, ohne Erklärung. Was würdest du dazu sagen?«
Es entstand eine Pause, und Paul erinnerte sich an den verstreuten Haufen heller Kleidung am Strand. Er dachte an die vielen Abende, an denen seine Mutter nicht vor Mitternacht nach Hause gekommen war. »Geschäfte«, hatte sie jedesmal gestöhnt und sich in der Diele die Schuhe abgestreift, worauf |375| sie sofort ins Bett gegangen war. Er sah Rosemary an, die ihre Hände betrachtete.
»Sie ist ein Kind«, sagte sein Vater schließlich. »Sie ist sechzehn, schwanger und hat in einem verlassenen Haus gewohnt – ganz allein. Ich konnte sie doch nicht einfach da sitzenlassen.«
Seine Mutter seufzte. Paul sah sie vor sich, wie sie sich mit den Fingern durchs Haar strich.
»Ist das jetzt die Midlife-Crisis?« fragte sie ruhig. »Ist es das?«
»Midlife-Crisis?« Die Stimme seines Vaters klang aufgeräumt, nachdenklich, als würde er sich ernsthaft Gedanken darüber machen. »Das kann durchaus sein. Ich weiß, daß ich vor eine Wand gerannt bin, Norah. In Pittsburgh. In jungen Jahren hatte ich es immer schwer. Der Luxus, jemand anders zu sein, war mir nicht vergönnt. Ich bin dorthin zurückgekehrt, um mir über ein paar Sachen klarzuwerden. Und dann traf ich auf Rosemary, in meinem alten Zuhause. Das alles kann kein Zufall sein, ich weiß auch nicht. Ich kann es nicht erklären, ohne dabei ziemlich verrückt zu klingen, aber bitte vertrau mir, Norah. Ich habe kein Verhältnis mit ihr, damit hat es nichts zu tun. Und wird es auch nicht.«
Paul sah Rosemary an. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, so daß er ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, doch ihre Wangen waren gerötet. Sie machte sich an einem abgebrochenen Fingernagel zu schaffen und vermied seinen Blick.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte seine Mutter langsam. »Ausgerechnet diese Woche, David. Weißt du, wo ich gerade herkomme? Ich war mit Bree beim Arzt. Sie hat letzte Woche eine Biopsie machen lassen. Es ist die linke Brust. Es ist zwar nur ein kleiner Knoten, und ihre Aussichten sind gut, aber er ist bösartig.«
»Das wußte ich nicht, Norah. Es tut mir leid.«
»Faß mich bitte nicht an, David.«
»Wer operiert sie?«
|376| »Ed Jones.«
»Ed ist gut.«
»Das muß er auch sein. Deine Midlife-Crisis ist das letzte, was ich jetzt brauchen kann, David.«
Während er zuhörte, spürte Paul, wie die Welt sich ein wenig verlangsamte. Er dachte an Bree und ihr spontanes Lachen, wie sie sich häufig eine Stunde lang zu ihm setzte und seinem Spiel zuhörte. Dann schwebte die Musik auf eine Weise zwischen ihnen, daß sie nicht mehr zu sprechen brauchten. In diesen Momenten schloß sie ihre Augen und streckte sich in der Schaukel aus. Paul konnte sich eine Welt ohne sie nicht vorstellen.
»Was erwartest du?« fragte sein Vater. »Was erwartest du von mir, Norah? Ich bleibe, wenn du es willst. Oder ich ziehe aus. Aber ich kann Rosemary nicht wieder wegschicken. Sie hat kein Zuhause.«
Es herrschte für kurze Zeit Stille, und Paul traute sich kaum zu atmen. Er wünschte sich, daß seine Mutter nie antworten würde.
»Und ich?« fragte er,
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