Die Tochter des Fotografen
Schiebetür beiseite, kam mit einem Glas Wasser auf die Veranda und setzte sich. »Wow, dein Vater hatte recht – das war Wahnsinn.«
»Danke«, erwiderte er und senkte seinen Kopf, um seine Freude zu verbergen, wobei er an einer Saite zupfte. Durch die Musik war er nun gelöst, war nicht mehr zornig. »Wie steht’s mit dir? Kannst du spielen?«
»Nein. Ich habe mal Klavierunterricht genommen.«
»Wir haben ein Klavier«, sagte er und wies mit dem Kopf Richtung Tür. »Nur zu.«
Sie lächelte, doch ihr Blick war immer noch ernst. »Danke für das Angebot, aber ich bin nicht in der Stimmung. Doch |372| du bist richtig gut. Ein absoluter Profi. Es wäre mir peinlich, jetzt ›Für Elise‹ oder so etwas hinzusauen.«
Er lächelte zurück. »›Für Elise‹ – das kenne ich. Wir könnten ein Duett spielen.«
»Ein Duett«, wiederholte sie und nickte, ein wenig finster dreinschauend. Dann sah sie auf. »Bist du ein Einzelkind?«
Er schreckte auf. »Ja und nein. Ich hatte eine Schwester. Eine Zwillingsschwester. Sie ist gestorben.«
Rosemary nickte. »Denkst du manchmal an sie?«
»Klar.« Er fühlte sich unwohl und sah weg. »Nicht wirklich an sie. Ich habe sie ja nie gekannt. Aber daran, wie sie hätte sein können.«
Er errötete und war bestürzt, vor diesem Mädchen so viel preisgegeben zu haben, dieser Fremden, die ihr komplettes Leben durcheinandergebracht hatte, dieses Mädchen, das er nicht einmal mochte.
»Okay«, sagte er. »Jetzt bist du dran. Erzähl mir etwas Persönliches von dir. Erzähl mir etwas, das mein Vater nicht weiß.«
Sie sah ihn prüfend an. »Ich mag keine Bananen«, sagte sie schließlich, und er lachte, bis auch sie lachte. »Ich mag wirklich keine. Was noch? Mit fünf bin ich vom Fahrrad gefallen und habe mir den Arm gebrochen.«
»Ich auch. Ich habe mir auch den Arm gebrochen. Als ich sechs war. Bin vom Baum gefallen.« Sofort erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihn hochgehoben hatte, wie die grelle Sonne vor den Blättern ihn geblendet hatte, als er zum Auto getragen worden war. Er erinnerte sich an die Hände seines Vaters, die gezielt und sanft seine Knochen gerichtet hatten, und daran, wie er in der hellen, goldenen Nachmittagssonne wieder zurück nach Hause gekommen war.
»Hey«, sagte er. »Ich muß dir was zeigen.«
Er legte die Gitarre flach auf die Schaukel und griff zu den grob aufgelösten Schwarzweißfotos.
»War es hier?« fragte er und reichte ihr ein Bild. »Wo du meinen Vater getroffen hast?«
|373| Sie nahm das Foto, begutachtete es und nickte dann. »Ja. Es sieht jetzt anders aus. Auf dem Bild sieht man, daß es mal ein sehr schönes Haus war – mit den hübschen Vorhängen vor den Fenstern und den Blumen überall. Aber nun lebt dort niemand mehr. Es steht einfach leer. Der Wind pfeift hindurch, weil die Fensterscheiben zerbrochen sind. Als ich klein war, haben wir immer dort gespielt, mit meinen Cousins, und wir liefen wie wild zwischen den Hügeln umher. Sie sagten immer, daß es darin spuke. Aber ich mochte es – warum, weiß ich auch nicht genau. Manchmal saß ich einfach nur drinnen und träumte davon, was ich mal werden würde.«
Er nickte, griff sich das Foto wieder und inspizierte die Figuren wie schon etliche Male zuvor, als ob sie ihm alle Fragen zu seinem Vater beantworten könnten.
»Das hast du nicht etwa geträumt?« sagte er schließlich und schaute auf.
»Nein«, sagte sie leise. »Das nicht.«
Ein paar Minuten redeten beide nicht. Das Sonnenlicht fiel durch die Bäume auf die Veranda und warf Schatten auf den lackierten Boden.
»Okay. Jetzt bist du wieder dran«, sagte sie nach einer Minute und drehte sich wieder zu ihm.
»Ich bin dran?«
»Erzähl mir was, das dein Vater nicht weiß.«
»Ich werde auf die Juilliard gehen«, sagte er. Die Worte purzelten heraus und klangen wie Musik. Außer seiner Mutter hatte er es bislang niemandem erzählt. »Ich stand an erster Stelle auf der Liste der Nachrücker, und letzte Woche haben sie mich angenommen. Als er nicht hier war.«
»Wow.« Sie lachte ein wenig traurig. »Ich hatte jetzt eher an dein Lieblingsgemüse oder so etwas gedacht«, sagte sie. »Aber das ist toll, Paul. Die Collegezeit ist bestimmt super.«
»Du wärst also jetzt gewechselt«, sagte er und verstand plötzlich, was ihr entging.
|374| »Das werde ich noch. Das werde ich auf jeden Fall noch.«
»Ich werde mir das höchstwahrscheinlich selbst finanzieren müssen«, warf Paul ein und bemerkte die hitzige
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