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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Schweigens rauschte in ihrem Ohr. Sie sah Sam vor sich, wie er zu Hause vor der Glasfront arbeitete und auf den See blickte. Er war ein Investmentbanker, und Norah hatte ihn vor sechs Monaten im Parkhaus kennengelernt, im trüben Neonlicht neben dem Fahrstuhl. Ihr Schlüsselbund war ihr aus der Hand gefallen, und er hatte es auf halber Strecke aufgefangen, flink und geschmeidig waren seine Hände hervorgeschnellt, wie Fische. »Ist das Ihres?« hatte er mit einem kurzen, unbekümmerten Lächeln gefragt – ein Scherz, wo sie doch unter sich waren. Und Norah – |382| in einem vertrauten Rausch, einer Art dunklem, erlösendem Sturzflug – hatte genickt. Seine Finger streiften ihre Haut, und der Schlüsselbund fiel kalt in ihre Hand.
    In dieser Nacht hatte er eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. Norahs Herz hatte schneller geschlagen, beim Klang seiner Stimme gezittert. Und doch hatte sie sich auf die Nachricht hin gezwungen, all ihre Affären zu zählen – die kurzen und andauernden, die leidenschaftlichen und distanzierten, die erbitterten und friedlichen –, jede einzelne in all den Jahren.
    Vier. Sie hatte die Zahl aufgeschrieben, ein dunkles Symbol am Seitenrand der morgendlichen Zeitung. Oben lief das Wasser in die Badewanne. Paul spielte im Wohnzimmer Gitarre, wieder und wieder dieselbe Tonfolge. David arbeitete in seiner Dunkelkammer – wie immer hielten sie sich in großer Entfernung zueinander auf. Norah war in jede ihrer Affären mit einem Gefühl der Hoffnung und des Neuanfangs hineingegangen, das sich im Rausch der geheimen Treffen, des Neuartigen und der Überraschung zusammengebraut hatte. Nach Howard waren es noch zwei weitere Affären gewesen, intensiv und kurzlebig, gefolgt von einer dritten, längeren. Jede von ihnen hatte begonnen, wenn sie geglaubt hatte, daß das Schweigen im eigenen Haus sie verrückt machen würde, und die unbekannte Welt eines beliebigen anderen Wesens ihr als Trost erschienen war.
    »Norah, bitte hör mir nur kurz zu«, sagte Sam nun. Er war ein energischer Mann, ein starker Verhandlungsführer, ein Mensch, den sie nicht mal sonderlich mochte. Vom Empfang aus warf Bree ihr einen fragenden, ungeduldigen Blick zu. Ja, bedeutete ihr Norah durch die Scheibe, sie würde sich beeilen. Um IBM hatten sie sich nun schon seit fast einem Jahr bemüht, da würde sie sicher nicht trödeln. »Ich wollte nur mal nach Paul fragen«, ließ sich Sam nicht kleinkriegen. »Ob du irgendwas von ihm gehört hast. Ich bin für dich da, okay? |383| Hörst du, was ich dir sage, Norah? Ich bin Tag und Nacht für dich da.«
    »Ich höre dich«, sagte sie und ärgerte sich über sich selbst – sie wollte nicht, daß Sam über ihren Sohn sprach. Paul war jetzt seit vierundzwanzig Stunden verschwunden; genau wie das Auto drei Häuserblocks weiter. Nach diesem dramatischen Auftritt auf der Veranda hatte sie ihm hinterhergesehen und sich daran zu erinnern versucht, was sie gesagt hatte, was er vorher mitbekommen haben konnte, und es tat ihr in der Seele weh, wenn sie an seinen verstörten Gesichtsausdruck dachte. Davids Entscheidung, Paul seinen Segen zu geben, war richtig gewesen. Und doch hatte die Absonderlichkeit dieses Verhaltens die Situation verschlimmert. Sie hatte Paul mit seiner Gitarre davonstapfen sehen und wäre fast hinter ihm hergelaufen, doch sie hatte Kopfschmerzen gehabt und sich eingeredet, daß er vielleicht ein wenig Zeit bräuchte, um mit sich selbst ins reine zu kommen. Außerdem würde er sich natürlich nicht weit entfernen – wo sollte er schon hingehen?
    »Norah?« rief Sam. »Norah, alles klar bei dir?«
    Sie schloß kurz die Augen. Sonnenlicht wärmte ihr Gesicht. Sams Schlafzimmerfenster waren voller Prismen, und an diesem wunderschönen Morgen würde es sicher auf jeder Fläche ein lebhaftes Licht- und Farbenspiel geben. »Wie Sex in der Disko«, hatte sie einmal gesagt, halb tadelnd, halb verzaubert; wandernde Farbschatten auf seinen Armen und der eigenen blassen Haut.
    An diesem Tag, wie an allen anderen Tagen, seit sie sich kannten, hatte Norah beschlossen, die Sache zu beenden. Dann hatte Sam mit seinem Finger die Spuren der bunten Lichtprojektionen auf ihrem Oberschenkel nachgezogen, und langsam hatte sie gespürt, wie sie weicher wurde, wie ihre Gefühle ineinanderflossen, dunkles Indigo und Gold verschmolzen, und sich der Widerstand auf abgründige Weise in Begierde verwandelte.
    |384| Das Vergnügen dauerte jedoch stets nur bis zur Fahrt nach

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