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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Handwerker waren weit und breit nicht zu sehen. Die Einfahrt war leer, Norah war nicht zu Hause. Er lief ein paarmal auf dem Rasen auf und ab, um Luft zu holen, und ging dann zu der Stelle neben dem Rhododendron, wo immer noch der Schlüssel unter einem Ziegelstein verborgen lag. Er verschaffte sich Zutritt und trank einen Schluck Wasser. Im Haus roch es muffig, so daß er ein Fenster öffnete. Der Wind spielte mit den glatten weißen Vorhängen, die neu waren, genau wie der Fliesenboden und der Kühlschrank. Er holte sich ein weiteres Glas Wasser. Dann ging er durchs Haus, neugierig, zu sehen, was sich noch verändert hatte. Es waren kleine Sachen, überall: ein neuer Spiegel im Eßzimmer oder die Sessel im Wohnzimmer, die neu bezogen und umgestellt worden waren.
    Die Schlafzimmer eine Etage höher waren unverändert. Pauls Zimmer war ein Schrein jugendlicher Ängste und Nöte mit Postern obskurer Musikgruppen an den Wänden und abgerissenen Tickets am Pinnbrett. Die Wände waren in einem so scheußlichen Dunkelblau gestrichen, daß man sich vorkam wie in einer Höhle. Obwohl David ihm seinen Segen gegeben hatte, zur Juilliard zu gehen, und ihm das Studium zur Hälfte finanzierte, war es noch immer die dunkle Vergangenheit, die Paul in Erinnerung behielt – weil David nicht an sein Talent geglaubt hatte, nicht geglaubt hatte, daß er davon leben könnte. Neben Postkarten schickte er Flyer und Konzertkritiken aus jeder Stadt, in der er auftrat, als wolle er sagen: Sieh her, ich habe Erfolg. Als könne er es selbst kaum glauben. Manchmal fuhr David zwei- oder gar dreihundert Kilometer weit – nach Cincinnati, Pittsburgh, Atlanta oder Memphis –, um sich in einen Konzertsaal zu schleichen und |421| Paul spielen zu sehen. Sein Kopf über die Gitarre gebeugt, seine gewandten Finger, die Musik, eine mysteriöse und bezaubernde Sprache – all das rührte David zu Tränen. Es war alles, was er tun konnte. Manchmal kam er in Versuchung, die dunklen Gänge hinabzuschreiten und Paul in seine Arme zu schließen. Natürlich tat er dies nie. Meist schlich er ungesehen wieder hinaus.
    Das große Schlafzimmer war tadellos aufgeräumt und unbenutzt. Norah war ins kleinere Schlafzimmer nach vorn gezogen, in dem ein Glas Wasser neben dem nicht gemachten Bett stand. Die Decke lag halb auf dem Boden; David bückte sich, um sie hochzuziehen, doch im letzten Moment zog er seine Hand wieder zurück, als würde er sich damit schon zu sehr in ihr Leben einmischen. Dann ging er wieder hinunter.
    Er verstand das nicht – es war spät am Nachmittag, und Norah müßte eigentlich zu Hause sein. Wenn sie nicht bald käme, würde er einfach gehen.
    Auf der Anrichte neben dem Telefon lag ein gelber Block, der voller kryptischer Notizen war: »Jan vor 8 Uhr anrufen – neuer Termin; Tim ist nicht sicher, Lieferung vor 10 Uhr. Nicht vergessen – Dunfree und Tickets.« Er riß die Seite vorsichtig und ordentlich heraus und plazierte sie auf der Mitte der Anrichte. Dann nahm er den Block und ging zurück in die Frühstücksecke, wo er sich hinsetzte und zu schreiben begann.

    Unsere kleine Tochter ist nicht gestorben. Caroline Gill hat sie zu sich genommen und in einer anderen Stadt großgezogen.

    Er strich es durch.

    Ich habe unsere Tochter weggegeben.

    Er seufzte und ließ den Stift sinken. Er würde es niemals tun. Er konnte sich kaum noch vorstellen, wie sein Leben ohne die Last dieser Lüge aussähe. Menschen rauchten, sprangen |422| aus Flugzeugen, tranken zuviel, stiegen in Autos und fuhren ohne Gurt. Er hatte sein Geheimnis. Die neuen Vorhänge streiften seinen Arm. Weiter unten im Badezimmer tropfte der Wasserhahn, der ihn jahrelang wahnsinnig gemacht hatte, den er immer hatte reparieren wollen. Er riß das Blatt vom Notizblock, zerknüllte es, warf es in den Mülleimer und vergrub es unter einem feuchtkalten Haufen Kaffeesatz. Dann ging er in die Garage und wühlte zwischen den Werkzeugen herum, die er zurückgelassen hatte, bis er einen Schraubenschlüssel und eine kleine Tüte mit Dichtungsringen fand. Wahrscheinlich hatte er sie eines Samstags genau aus diesem Grund gekauft.
    Er brauchte über eine Stunde, um die Armatur zu reparieren. Er nahm sie auseinander, wusch die Ablagerungen von den Gittersieben, tauschte die Dichtungsringe aus und zog die Anschlüsse wieder fest. Das Messing war stumpf geworden. Er polierte es mit einer Zahnbürste, die er in einer alten Kaffeetasse unter dem Waschbecken fand. Es war sechs Uhr, als er

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