Die Tochter des Fotografen
wirkte außerordentlich jung, stark und schmal, ihr Haar war noch naß, und auf ihrem Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck. Ihren Sohn würde sie unterwegs im Hort vorbeibringen.
»Ach ja«, sagte sie. »Fast hätte ich es in dem ganzen Trubel vergessen: Paul hat angerufen.«
Davids Herz schlug schneller. »Tatsächlich?«
|418| »Ja, heute morgen. Für ihn war es mitten in der Nacht – er kam gerade von einem Konzert nach Hause. Er ist in Sevilla, hat er gesagt. Er ist jetzt schon drei Wochen dort und nimmt bei irgendwem Unterricht für Flamenco-Gitarre. Ich weiß den Namen nicht mehr, aber es klang berühmt.«
»Geht es ihm gut?«
»Es hörte sich jedenfalls so an. Er hat keine Nummer hinterlassen. Er meinte, er würde noch mal anrufen.«
David nickte und war froh, daß Paul in Sicherheit war. Froh, daß er angerufen hatte.
»Viel Glück für deine Prüfung«, sagte er.
»Danke. Ich will nur bestehen – das ist alles, was zählt.«
Sie lächelte, winkte und ging mit Jack den schmalen Steinweg zum Bürgersteig entlang. David sah ihr nach und versuchte, diesen Moment für immer in seinem Gedächtnis festzuhalten – die lebendigen Farben, ihr Haar, das gegen den Rücken wippte, Jacks Hände, die nach Blättern und Zweigen griffen. Natürlich war dies alles flüchtig – er vergaß es wieder mit jedem Schritt, den sie tat. Manchmal verblüfften ihn seine Fotografien, Bilder, über die er stolperte, wenn er in alten Kisten oder Mappen kramte, Momente, an die er sich nicht mal erinnerte, wenn er sie vor sich sah: er selbst, wie er mit Leuten lachte, deren Namen er vergessen hatte, Paul mit einem Gesichtsausdruck, den er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Und was würde von diesem Moment in einem Jahr bleiben, oder in fünf? Die Sonne in Rosemarys Haar, der Dreck unter ihren Fingernägeln und der klare, zarte Duft von Seife.
Aber war das nicht auch genug?
Er stand auf, dehnte sich und lief mit großen Schritten Richtung Park. Nach ungefähr anderthalb Kilometern kam ihm eine andere Sache in den Sinn, die ihm den ganzen Morgen durch den Kopf gespukt war. Die Bedeutung dieses Tages, des 27. Juli, abgesehen von Rosemarys Prüfung: Es war Norahs Geburtstag. Sie wurde vierundfünfzig.
|419| Es war schwer zu glauben. Er lief weiter in einem bequemen Tempo und hatte Norah am Tag ihrer Hochzeit vor Augen. Sie waren nach draußen in die rauhe Spätwintersonne getreten, hatten auf dem Gehsteig gestanden und ihren Gästen die Hände geschüttelt. Der Wind spielte mit Norahs Schleier, drückte ihn gegen ihre Wange, und der späte Schnee auf dem Hornstrauch rieselte hinunter wie ein Reigen aus Blütenblättern. Er rannte weiter, wandte sich ab vom Park und lief statt dessen in seine alte Wohngegend, wo Norah noch immer zu Hause war. Rosemary hatte recht. Sie mußte es erfahren. Er würde es ihr heute sagen. Er würde zu ihr gehen und dort warten, bis sie zurückkehrte. Er würde es ihr sagen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie sie reagieren würde.
»Natürlich kannst du das nicht«, hatte Rosemary gesagt. »So ist das Leben, David. Hättest du dir vor Jahren vorstellen können, hier in diesem kleinen, bescheidenen Zweifamilienhaus zu leben? Hättest du dir in einer Million Jahren mich vorstellen können.«
Gut, damit hatte sie schon recht. Das Leben, das er lebte, war nicht das, welches ihm vorgeschwebt hatte. Er war als Fremder in diese Stadt gekommen, und nun waren ihm die Straßen, die vorbeizogen, völlig vertraut. Es gab nicht einen Schritt oder ein Bild, das nicht mit irgendeiner Erinnerung verknüpft war. Er hatte gesehen, wie man die Bäume pflanzte, hatte sie in die Höhe schießen sehen. Er lief an Häusern vorbei, die er kannte, Häusern, in denen er zum Abendessen oder auf einen Drink eingeladen gewesen war, wohin er im Notdienst hatte fahren müssen und wo er spät in der Nacht in Fluren und Foyers gestanden und Rezepte geschrieben oder den Krankenwagen gerufen hatte. Schichten über Schichten von Tagen und Bildern, die dicht und komplex und nur für ihn von Bedeutung waren. Norah oder Paul könnten diese Straße entlanggehen und etwas völlig anderes, ebenso Wahrhaftiges sehen.
|420| David bog in seine alte Straße ein. Seit Monaten war er nicht mehr hier gewesen, und er war überrascht, die Stützbalken der Veranda seines Hauses abgerissen vorzufinden, während das Dach von jeweils zwei kräftigen Holzpfählen gehalten wurde. Der Boden der Veranda war offenbar morsch, aber
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