Die Tochter des Fotografen
war noch nicht hier. Norah ging ans Fenster, das den Blick auf den Fluß freigab, stand eine Weile dort und dachte an David, wie er Paul in ihrem ersten Haus auf den Schultern trug, dachte an den Tag, als er ihr den Heiratsantrag machte, als er seine Stimme über das Rauschen des Wassers erhob und der Ring ihren Finger herabglitt. Sie dachte an Pauls Hand, an Michelles, wie ihre Handflächen sich berührten.
Sie ging zu dem kleinen Schreibtisch und schrieb eine kurze Nachricht: »Frederic, ich bin auf der Terrasse.«
Von der Terrasse, die von eingetopften Palmen gesäumt war, blickte man auf die Seine. Man hatte winzige Lichter an |440| den Bäumen und eisernen Geländern angebracht. Norah setzte sich auf einen Platz, von dem aus sie auf den Fluß sehen konnte, und bestellte ein Glas Wein. Ihr Buch hatte sie irgendwo liegenlassen, wahrscheinlich in den Gärten des Louvre. Der Verlust löste bei ihr ein vages Gefühl des Bedauerns aus. Es war kein Buch, das man zweimal kaufte, es war einfach nur etwas Kurzweiliges, das einem die Zeit vertrieb. Es ging um zwei Schwestern. Nun würde sie niemals erfahren, wie die Geschichte ausging.
Zwei Schwestern. Vielleicht würden Bree und sie auch eines Tages ein Buch schreiben. Der Gedanke daran ließ Norah schmunzeln, und der Mann im weißen Anzug, der mit einem kleinen Aperitifglas vor sich am Tisch nebenan saß, lächelte zurück. Genauso fingen diese Geschichten an. Früher hätte sie jetzt die Beine verschränkt oder ihr Haar zurückgestrichen, kleine einladende Gesten, bis er aufgestanden wäre, seinen Tisch verlassen und sie gefragt hätte, ob er sich zu ihr setzen könne. Die Macht dieses Spiels, den Entdeckungsdrang hatte sie geliebt. Doch heute abend sah sie weg. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, und als er zu Ende geraucht hatte, zahlte er und ging.
Norah beobachtete den Menschenstrom vor dem schimmernden Fluß. Vergeblich hielt sie nach Frederic Ausschau. Doch dann spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um, und er küßte sie auf die eine Wange, dann auf die andere, schließlich trafen sich ihre Lippen.
»Hallo«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber. Er war nicht sonderlich groß, aber athletisch und hatte vom jahrelangen Schwimmen breite Schultern. Er war ein Systemanalyst, und Norah mochte seine Selbstsicherheit, seine Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und nicht bei den Einzelheiten des flüchtigen Augenblicks stehenzubleiben. Und doch war es genau das, was sie häufig auch irritierte – seine Sicht auf die Welt als einen verläßlichen, vorhersehbaren Ort.
|441| »Hast du lange gewartet?« fragte er. »Hast du etwas gegessen?«
»Nein.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihr Weinglas, das noch fast voll war. »Überhaupt nichts. Und ich bin ausgehungert.«
Er nickte. »Gut. Tut mir leid, daß ich jetzt erst komme, aber der Zug hatte Verspätung.«
»Schon gut. Wie war dein Tag in Orléans?«
»Ziemlich stumpfsinnig. Aber ich hatte ein nettes Mittagessen mit meinem Cousin.« Er fing an zu erzählen, und Norah lehnte sich zurück, ließ die Worte auf sich herabrieseln. Frederics Hände waren stark und geschickt, und sie dachte an den Tag, an dem er ihr – das ganze Wochenende in der Garage inmitten frischer Hobelspäne stehend – ein Bücherregal gezimmert hatte. Er scheute sich nicht vor Arbeit, und genausowenig scheute er sich davor, sie vom Kochen abzuhalten, indem er seine Hände um ihre Hüfte schlang und sie so lange auf den Nacken küßte, bis sie sich umdrehte und seinen Kuß erwiderte. Er rauchte Pfeife, was sie nicht mochte, arbeitete zu hart und raste auf der Autobahn.
»Hast du es Paul erzählt?« fragte Frederic. »Hat er es gut aufgenommen?«
»Ich weiß nicht. Ich hoffe es. Wir treffen uns morgen zum Frühstück. Er will sich mit dir über die arroganten Amerikaner auslassen.«
Frederic lachte. »Sehr gut. Dein Sohn gefällt mir.«
»Er ist verliebt. Und dieses Mädchen, das er anhimmelt, ist wirklich liebenswert. Michelle. Sie ist auch mit dabei morgen.«
»Sehr gut«, sagte Frederic wieder und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Es tut gut, verliebt zu sein.«
Sie bestellten ihr Abendessen – Rindermedaillons an Reisplätzchen – und noch mehr Wein. Weiter unten zog der Fluß dunkel und schweigsam vorüber, und während sie sich unterhielten, dachte Norah daran, wie schön es war, sich an einem |442| Platz niederzulassen und dort in aller Ruhe zu sitzen. Hier in Paris zu sitzen
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