Die Tochter des Fotografen
verbracht.
»Ich werde dir ständig auf den Füßen stehen«, sagte Al, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
»Meinst du?« Sie schaute ihn konzentriert an und registrierte seine Blässe und seinen ernsten Blick. »Heißt das, du willst in Rente gehen?«
Er schüttelte den Kopf und betrachtete noch immer seine Hände. »Dafür bin ich noch zu jung. Ich habe überlegt, daß ich vielleicht etwas anderes machen könnte. Pendlerfahrten vielleicht – das alles kenne ich doch in- und auswendig. Oder Stadtbus fahren. Ich weiß es nicht – irgendwas halt. Aber ich kann nicht wieder zurück auf die Landstraße.«
Caroline nickte. Sie war zur Unfallstelle gefahren und hatte sich das Loch angesehen, das in die Leitplanke gerissen worden war, und den vernarbten Flecken Erde, den der Truck hinterlassen hatte.
»Ich hatte immer so ein Gefühl in mir«, sagte Al und schielte auf seine Hände. Sein Gesicht war von Stoppeln übersät. »Als müßte es eines Tages so kommen. Und nun ist es passiert.«
»Das hast du mir nie erzählt«, sagte Caroline. »Daß du Angst hast.«
|467| »Keine Angst. Es war nur ein Gefühl. Das ist etwas anderes.«
»Du hast es trotzdem nie erwähnt.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es hätte keinen Unterschied gemacht. Es war nur ein Gefühl, Caroline.«
Sie nickte. Ein paar Meter weiter, und Al wäre gestorben – das hatten die Polizisten mehr als einmal gesagt. Die ganze Woche über hatte sie verdrängt, was hätte passieren können. Die Wahrheit aber war, daß sie eine Witwe hätte sein können, den Rest ihres Lebens allein vor sich.
»Vielleicht solltest du in Rente gehen«, sagte sie langsam. »Ich bin zu diesem Anwalt gegangen, Al. Der Termin war ja schon ausgemacht, deswegen habe ich ihn eingehalten. David Henry hat Phoebe eine Menge Geld hinterlassen.«
»Das ist aber nicht meines«, sagte Al. »Selbst wenn es Millionen wären, ist es nicht mein Geld.«
Ihr fiel ein, wie er reagiert hatte, als Doro ihnen das Haus überließ: derselbe Widerwille, etwas anzunehmen, das er sich nicht mit seinen eigenen Händen erarbeitet hatte.
»Das stimmt schon«, sagte sie. »Das Geld ist für Phoebe. Aber du und ich, wir haben sie großgezogen. Wenn für sie finanziell gesorgt ist, müssen wir uns nicht mehr so viele Gedanken machen. Dann haben wir mehr Freiheiten. Al, wir haben hart gearbeitet. Vielleicht ist es für uns an der Zeit, in Pension zu gehen.«
»Wie meinst du das?« fragte er. »Willst du, daß Phoebe auszieht?«
»Nein, ich möchte das überhaupt nicht. Aber Phoebe möchte es. Sie und Robert sind gerade unten.« Caroline lächelte kaum merklich und dachte an den Strauß Rosen, den sie auf der Arbeitsplatte neben dem Berg halbgeschälter Möhren hatte liegenlassen. »Sie sind zusammen zum Supermarkt gefahren. Mit dem Bus. Sie haben Blumen für mich gekauft, weil heute Samstag ist. Ich weiß es einfach nicht, Al. Wer bin ich, das zu entscheiden? Vielleicht werden die beiden im großen und ganzen gut klarkommen.«
|468| Er nickte und dachte nach. Sie erschrak darüber, wie müde er aussah, wie zerbrechlich ihrer aller Leben doch eigentlich war. All die Jahre hatte sie versucht, sich auf alle Eventualitäten einzustellen, allen Sicherheit zu geben – und hier lag Al nun, ein wenig gealtert, mit einem gebrochenen Bein. Ein Szenarium, das ihr nie in den Sinn gekommen war.
»Morgen mache ich Schmorbraten«, sagte sie. Es war sein Lieblingsgericht. »Ist Pizza für heute in Ordnung?«
»Einwandfrei«, sagte Al. »Aber bitte die von der Pizzeria in Braddock.«
Sie strich über seine Schulter und ging die Treppe hinunter, um die Bestellung aufzugeben. Auf dem Treppenabsatz blieb sie kurz stehen und lauschte Robert und Phoebe, deren leisen Worten immer wieder ein lautes Gelächter folgte. Die Welt war ein riesiger, unvorhersehbarer und teilweise beängstigender Ort. Doch hier, in diesem Moment, war ihre Tochter in der Küche und alberte mit ihrem Freund herum, ihr Mann döste mit einem Buch auf seinem Schoß vor sich hin, und sie mußte kein Abendessen kochen. Sie atmete tief ein. In der Luft lag noch immer ein ferner Duft von Rosen – ein reiner, kalter Duft wie Schnee.
|472| 22. Kapitel
1. Juli 1989
D AS STUDIO ÜBER DER GARAGE MIT DER VERSTECKTEN Dunkelkammer war nicht wieder betreten worden, seitdem David vor sieben Jahren ausgezogen war. Doch nun, wo das Haus verkauft werden sollte, blieb Norah nichts anderes übrig, als sich der Sache zu stellen. Davids Arbeiten waren
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