Die Tochter des Fotografen
wieder gefragt, waren eine Menge Geld wert; morgen würden Kuratoren kommen, um die Sammlung zu begutachten. Deshalb hatte Norah seit dem frühen Morgen auf dem gestrichenen Fußboden gesessen und mit einem Teppichmesser Kisten aufgeschnitten, um Ordner voll mit Fotos, Negativen und Notizen hervorzuholen. Sie war fest entschlossen, bei der Sichtung der Bilder schonungslos und distanziert vorzugehen. Es würde nicht lange dauern; David war sehr gewissenhaft gewesen und hatte alles ordentlich beschriftet. Einen Tag, dachte sie – nicht länger.
Doch sie hatte die Rechnung ohne die Erinnerung gemacht, den sanften Lockruf des Vergangenen. Es war nun früher Nachmittag, es wurde immer heißer, und sie hatte gerade einmal eine Kiste geschafft. Am Fenster surrte ein Ventilator, und ein feiner Schweißfilm lag auf ihrer Haut. Die glänzenden Fotos klebten an ihren Fingerspitzen. Die Jahre ihrer Jugend schienen gleichermaßen nah und doch völlig unwirklich zu sein. Hier war sie mit einem Tuch zu sehen, das sie frech in ihre aufwendig frisierten Haare gebunden hatte, Bree daneben mit mächtigen Ohrringen, beide in einem Patchwork-Knitterrock. Dort ein seltenes Foto von David, mit ernster Miene und Bürstenschnitt hielt er den kleinen Paul in seinen Armen.
|473| Die Erinnerungen stiegen hoch, füllten den Raum, hielten Norah fest. Der Duft des Flieders, der Luft, der Duft von Pauls Kinderhaut. Davids Berührung, sein Räuspern, der Sonnenschein eines verlorenen Nachmittags, der in einem Muster auf dem Parkett entlangwandert. Was hatte es bedeutet, daß sie diese Momente auf diese besondere Weise erlebt hatten, fragte Norah sich nun. Was bedeutete es, daß die Fotos überhaupt nichts mit der Person zu tun hatten, die sie glaubte gewesen zu sein? Wenn sie genau hinsah, konnte sie sie erkennen, jene Distanz und Sehnsucht in ihrem Blick – so als schiene sie immer ein Stück über den Rand des Fotos hinauszublicken. Ein Fremder würde das nicht erkennen. Auch Paul nicht. Diese Fotos allein verrieten nichts über die verworrenen Geheimnisse ihres Herzens.
Eine Wespe surrte an der Decke entlang. Jedes Jahr kehrten sie wieder und bauten sich irgendwo im Vordach ein Nest. Nun, da Paul erwachsen war, kümmerte sich Norah nicht mehr um sie. Sie stand auf, streckte sich und holte eine Cola aus dem Kühlschrank, in dem David einst seine Chemikalien und die schmalen Filmdosen aufbewahrt hatte. Sie trank und sah dabei aus dem Fenster auf die wilden Schwertlilien und Geißblätter im Garten. Norah hatte immer mehr daraus machen wollen, als nur Vogelfutter an die Zweige zu hängen, doch all die Jahre war sie untätig geblieben. Nun würde sie nicht mehr damit anfangen. In zwei Monaten würde sie Frederic heiraten und diesen Ort für immer verlassen.
Er war nach Frankreich versetzt worden. Zweimal war diese Versetzung schon geplatzt, und sie hatten darüber gesprochen, sich zusammen etwas in Lexington zu suchen, ihre beiden Häuser zu verkaufen und neu anzufangen. Ganz neu – an einem Ort, an dem vorher nie jemand gelebt hatte. Ihre Unterhaltungen waren ausschweifend und voller Muße, es waren Gespräche, die beim Abendessen entfacht wurden oder während sie in der Abenddämmerung im Bett lagen, mit |474| einem Glas Wein auf ihren Nachttischen, der Mond eine bleiche Scheibe über den Bäumen im Fenster. Lexington, Frankreich, Taiwan – für Norah spielte es keine Rolle. Sie hatte das Gefühl, daß allein Frederic schon ein neu entdecktes Land war. Manchmal lag Norah nachts wach und lauschte seinem regelmäßigen Atem, der voller tiefer Zufriedenheit war. Es tat ihr weh, zu erkennen, wie weit David und sie sich von der Liebe entfernt hatten. Sicher war es seine Schuld gewesen – aber auch ihre. Sie hatte sich ihm verschlossen, war zugeschnürt gewesen, hatte vor allem Angst gehabt, nachdem Phoebe gestorben war. Doch diese Jahre waren nun Vergangenheit, waren vorbei und hatten nichts weiter als die Erinnerung zurückgelassen.
So kam Frankreich ihr gerade recht – und als sie erfuhr, daß er in die Nähe von Paris versetzt werden würde, war sie glücklich. Sie hatten bereits ein kleines Landhaus am Flußufer in Châteauneuf angemietet. Frederic war in diesem Moment dort und errichtete ein Gewächshaus für seine Orchideen. Alles stand ihr wieder deutlich vor Augen: die glatten roten Fliesen der Veranda, die leichte Brise, die vom Fluß zur Birke neben der Eingangstür herüberwehte, die Art und Weise, wie das Sonnenlicht auf Frederics
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