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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Schultern, auf seine Arme fiel, während er die Glasplatten einrahmte. Sie konnte zu Fuß zum Bahnhof gehen und war innerhalb von zwei Stunden in Paris, oder sie ging einfach ins Dorf und kaufte dort frischen Käse und frisches Brot, dunkle, funkelnde Weinflaschen, so daß ihre Leinenbeutel bei jedem Halt schwerer wurden. Sie würde Röstkartoffeln mit Zwiebeln braten und innehalten, um zum langsam dahinfließenden Strom hinter dem Zaun aufzublicken. An den Abenden, die sie auf der Veranda verbracht hatte, waren die nach Zitrone duftenden Mondblumen aufgegangen, und Frederic und sie hatten dort gesessen und Wein getrunken. Welch einfache Dinge, ja. Welch ein Glück. Norah blickte auf die Kisten mit den Fotos und hätte die junge Frau, die sie gewesen war, am |475| liebsten am Arm gepackt und sanft geschüttelt. »Weiter so«, wollte sie ihr sagen. »Gib nicht auf. Alles wird gut.«
    Sie spülte die Cola herunter und machte sich wieder an die Arbeit, schob die Kiste beiseite, die sie in Gedanken hatte versinken lassen, und öffnete eine andere. In dieser fanden sich Ordner, die gewissenhaft nach Jahren beschriftet waren. Der erste war voller Bilder unbekannter Babys, die im Kinderwagen schliefen, auf dem Rasen oder der Veranda saßen oder in den warmen Armen ihrer Mütter gehalten wurden. Alle Fotos waren glänzende Schwarzweißbilder im Acht-mal-zehn-Format, und selbst Norah konnte erahnen, daß es sich hier um Davids frühe Lichtexperimente handelte. Die Kuratoren würden sich freuen. Manche waren so dunkel, daß das Abgebildete kaum mehr zu erkennen war; andere waren fast im Weiß verwaschen. David mußte die Bandbreite seiner Kamera getestet haben, indem er dasselbe Motiv gewählt, Schärfe, Blende und Belichtungsdauer aber variiert hatte. Der zweite Ordner war sehr ähnlich, genau wie der dritte und vierte. Fotos von Mädchen, die zwei, drei oder vier Jahre alt, keine Säuglinge mehr waren. Mädchen im Festtagskleid in der Kirche, Mädchen, die durch den Park liefen, Mädchen die Eis schleckten oder sich in der Pause auf dem Schulhof versammelt hatten. Mädchen, die herumliefen, Bälle warfen, lachten und weinten. Norah runzelte die Stirn und sah die Bilder schneller durch. Es war nicht ein einziges Kind dabei, das sie kannte. Die Bilder waren sorgfältig nach Alter sortiert. Als sie bis zum Ende vorblätterte, waren dort keine Mädchen mehr zu sehen, sondern junge Frauen, die spazierengingen, einkauften oder miteinander redeten. Das letzte Bild zeigte eine junge Frau in einer Bibliothek, die – das Kinn auf die Hand gestützt – mit einem entrückten Gesichtsausdruck aus dem Fenster starrte, der Norah sehr vertraut war.
    Norah ließ das Album auf ihren Schoß fallen, und einzelne Bilder fielen heraus. Was hatte das zu bedeuten? All diese Mädchen, diese jungen Frauen – fast konnte man es als sexuelle |476| Obsession deuten, doch instinktiv wußte Norah, daß dem nicht so war. Was die Fotos alle gemeinsam hatten, war nichts Abgründiges, sondern etwas Unschuldiges. Kinder, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Park spielten, der Wind, der sich in ihrem Haar und ihren Kleidern verfing. Selbst die älteren, erwachsenen Frauen zeigten diese Eigenschaft. Mit fragendem Blick und weit aufgerissenen Augen sahen sie in die Welt. Es ging um Sehnsüchte, nicht um Lust. Sie blätterte bis zum Deckel zurück, um die Beschriftung zu lesen. »Studie« war alles, was dort stand.
    Schnell und gleichgültig, welche Unordnung sie anrichtete, nahm Norah sich alle Kisten vor und zog eine nach der anderen zu sich heran. In der Mitte des Raums fand sie eine weitere, die dick und schwarz mit »Studie« beschriftet war. Sie öffnete sie und holte die Ordner heraus.
    Diesmal waren es keine Mädchen, keine Fremden. Sondern Paul. Ordner auf Ordner Paul in jedem Alter. Wie er heranwuchs, sich veränderte, seine rebellische und abweisende Phase, seine Entschlossenheit und seine musikalische Hochbegabung, seine Finger, wie sie über der Gitarre schwebten.
    Lange Zeit saß Norah unbewegt da, aufgewühlt, und eine Gewißheit kristallisierte sich heraus: All die Jahre des Schweigens, in denen David nicht über ihre verlorene Tochter gesprochen hatte, hatte David ihre Abwesenheit dokumentiert. Paul und neben ihm tausend Mädchen, wie sie heranwuchsen.
    Paul, aber nicht Phoebe.
    Norah hätte weinen können. Plötzlich sehnte sie sich danach, mit David zu sprechen. Auch er hatte sie all die Jahre vermißt. All diese Fotos, diese

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