Die Tochter des Fotografen
stille, geheime Sehnsucht. Sie sah die Fotos noch einmal durch, betrachtete Paul, wie er als kleiner Junge einen Baseball fing, wie er Klavier spielte, wie er unter dem Baum im Garten herumalberte. All diese Erinnerungen hatte er gesammelt, Augenblicke, die Norah nie miterlebt hatte. Sie betrachtete sie wieder und wieder und |477| versuchte sich in die Welt hineinzuversetzen, die David erfahren hatte, in das Auge seines Gedächtnisses.
Zwei Stunden vergingen. Ihr wurde bewußt, daß sie hungrig war, doch sie konnte sich nicht losreißen, sich nicht mal vom Boden erheben. So viele Fotos, all diese Bilder von Paul, all diese unbekannten Mädchen und Frauen, die sein Alter spiegelten. In all diesen Jahren hatte sie immer die Gegenwart ihrer Tochter gespürt, einen Schatten, der außerhalb jedes Fotos stand, das gemacht worden war. Phoebe, die sie bei der Geburt verloren hatten, verweilte außer Sichtweite, als ob sie wenige Augenblicke vorher aufgestanden wäre und den Raum verlassen hätte, als ob ihr Duft, der Windzug ihrer unbeholfenen Bewegungen, noch immer in der Leere zu finden war, die sie hinterlassen hatte. Norah hatte mit niemandem über dieses Gefühl gesprochen, hatte Angst gehabt, daß man sie für sentimental oder gar verrückt erklären könnte. Es verblüffte sie nun, es trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie sah, wie tief auch David die Abwesenheit ihrer Tochter gefühlt hatte. Es schien, als hätte er überall nach ihr gesucht – in jedem Mädchen, in jeder jungen Frau – und sie nie gefunden.
In die Stille trat schließlich das Geräusch von knirschendem Schotter: ein Wagen fuhr die Auffahrt hoch. Irgend jemand kam zu Besuch. Weit weg hörte sie eine Tür zuschlagen, Schritte und das Klingeln der Türglocke. Sie schüttelte den Kopf und schluckte, doch sie stand nicht auf. Wer immer das auch war – er würde gehen und später wiederkommen; oder auch nicht. Irgendwelche neunmalklugen Pfadfinderinnen oder der Zeitungsmann. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Wer immer was von ihr wollte, konnte warten. Doch halt, nein. Der Möbelsachverständige hatte versprochen, diesen Nachmittag vorbeizuschauen. Also strich Norah sich mit den Händen über die Wangen, ging ins Haus, hielt kurz an, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, und fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare. »Ich komme«, rief sie gegen das Rauschen des Wassers an, als es erneut klingelte. |478| Sie schritt durch die Räume, in denen die Möbel alle in die Mitte gerückt und mit einer Plastikplane abgedeckt worden waren: Morgen kamen die Maler. Sie rechnete nach, wie viele Tage ihr blieben, und fragte sich, ob sie alles rechtzeitig erledigt haben würde. Für einen Augenblick kamen ihr die Abende in Châteauneuf in den Sinn, wo es möglich schien, daß ihr Leben immer heiter war, sich der Ruhe öffnete wie eine Blume der Sonne.
Während sie sich noch die Hände abwischte, öffnete sie die Tür.
Die Frau auf der Veranda kam ihr entfernt bekannt vor. Sie war zweckmäßig gekleidet und hatte eine frische dunkelblaue Hose an. Dazu trug sie einen kurzärmeligen weißen Baumwollsweater. Ihr dickes Haar war grau und sehr kurz geschnitten. Selbst auf den ersten Blick machte sie den Eindruck, als sei sie eine gut organisierte und tatkräftige Person – die Art Mensch, die sich nicht lange mit irgendwelchem Unsinn aufhielt. Jedoch sprach sie nicht. Es schien sie zu verwirren, Norah zu sehen. Sie blickte sie so durchdringend an, daß Norah zur Verteidigung ihre Arme verschränkte und sich plötzlich ihrer mit Staub verdreckten Shorts und ihres naßgeschwitzten T-Shirts bewußt wurde. Sie schaute über die Straße und blickte dann wieder auf die Frau auf ihrer Veranda. Sie traf ihren Blick, schaute ihr in die weit aufgerissenen, sehr blauen Augen, und dann schoß es ihr durch den Kopf.
Ihr Atem stockte.
»Caroline? Caroline Gill?«
Die Frau nickte, und ihre blauen Augen schlossen sich für einen kurzen Moment, als ob es irgendeine Vereinbarung zwischen ihnen gäbe. Doch Norah wußte nicht, welche. Die Anwesenheit dieser Frau aus einer anderen Zeit ließ ihr Herz schneller schlagen und brachte sie zurück in diese seltsame und traumartige Nacht, in der sie und David durch die stillen, schneebedeckten Straßen zur Klinik gefahren waren. Als Caroline Gill sie betäubt und ihre Hand während der Wehen |479| gehalten hatte, als sie gesagt hatte: »Schauen Sie mich an, schauen Sie zu mir, Mrs. Henry, ich bin hier bei Ihnen, alles ist in
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