Die Tochter des Fotografen
jedem. »Ich bin sicher, daß er das gerne getan hätte.«
»Paul!« Seine Mutter runzelte die Stirn. »Nein. Wenn überhaupt, dann wollte er dir dadurch alles ermöglichen und verlangte von sich selbst Perfektion. Das ist eine der Sachen, die mir klargeworden sind. Das ist eigentlich das Schlimme daran. Nun, wo ich das mit Phoebe weiß, ergeben so viele Rätsel um deinen Vater Sinn. Diese Mauer, die ich immer gespürt habe – die gab es tatsächlich.«
Sie stand auf, ging ins Haus und kam mit zwei Polaroids wieder. »Das ist sie«, sagte sie. »Das ist deine Schwester Phoebe.«
|499| Paul nahm die Bilder in die Hand und sah von einem zum anderen: Ein Mädchen stand in Pose und lächelte; die andere Aufnahme zeigte sie, wie sie auf einen Basketballkorb zielte. Noch immer versuchte er zu begreifen, was seine Mutter ihm gesagt hatte: daß diese Fremde mit den Mandelaugen und den stämmigen Beinen seine Schwester war.
»Ihr habt dieselben Haare«, sagte Norah sanft und setzte sich wieder neben ihn. »Sie singt gerne, Paul. Was sagst du dazu?« Sie lachte. »Und du wirst es nicht glauben – sie ist ein Basketballfan.«
Pauls Lachen klang schrill und war voller Pein. »Da hat Dad sich wohl das falsche Kind ausgesucht.«
Seine Mutter nahm die Bilder in ihre mit Asche verschmierte Hand.
»Sei nicht verbittert, Paul. Phoebe hat das Downsyndrom. Ich weiß nicht viel darüber, aber Caroline Gill hat einiges erzählt, das ich erst noch verarbeiten muß.«
Paul war mit dem Finger über den Rand der Betontreppe gefahren und hielt nun inne, als er sah, daß aus einer Schramme Blut hervortrat.
»Nicht verbittert sein? Wir waren an ihrem Grab«, sagte er und erinnerte sich daran, wie seine Mutter – die Arme voller Blumen – durch das gußeiserne Tor gegangen war und ihm gesagt hatte, er solle im Wagen warten. Erinnerte sich daran, wie sie auf der Erde gekniet und Buschwindröschen gesetzt hatte. »Wie verhält es sich damit?«
»Ich weiß es nicht. Es war Dr. Bentleys Land. Er muß es also auch gewußt haben. Dein Vater hatte mich niemals dorthin mitnehmen wollen. Ich mußte darum kämpfen. Damals habe ich gedacht, daß er Angst habe, ich könnte einen Nervenzusammenbruch erleiden. Wie verrückt mich das gemacht hat, diese Art und Weise, wie er immer über alles Bescheid wußte.«
Die Schärfe in ihrer Stimme ließ Paul zusammenfahren, und er dachte an das Gespräch mit Michelle an diesem Morgen. |500| Er preßte die Kuppe seines Daumens an seine Lippen und lutschte die kleinen Bluttropfen weg, froh über den scharfen Kupfergeschmack. Eine Weile saßen sie schweigend da und sahen auf den Garten mit seinen Ascheflocken, den verstreuten Fotos und den feuchten Kisten.
»Was bedeutet das«, fragte er schließlich, »daß sie zurückgeblieben ist? Ich meine, im alltäglichen Leben.«
Seine Mutter sah sich noch einmal die Fotos an. »Ich weiß es nicht. Caroline hat gesagt, sie habe sich ziemlich gut entwickelt, was immer das auch heißen mag. Sie hat Arbeit. Und einen Freund. Sie ist zur Schule gegangen. Aber offensichtlich kann sie nicht wirklich auf sich allein gestellt leben.«
»Diese Krankenschwester, Caroline Gill, warum ist sie nach so langer Zeit hierhergekommen? Was wollte sie?«
»Sie wollte es mir erzählen«, sagte seine Mutter sanft. »Das ist alles. Sie hat mich um nichts gebeten. Sie hat eine Tür geöffnet, Paul. So sehe ich das. Es war ein Angebot. Aber was als nächstes passiert, das liegt in unseren Händen.«
»Und was ist das? Was passiert nun?«
»Ich werde nach Pittsburgh gehen. Ich muß sie sehen, da bin ich mir sicher. Was danach kommt, weiß ich beim besten Willen nicht. Soll ich sie heimholen? Wir werden Fremde für sie sein. Und ich muß mit Frederic darüber reden – er muß es wissen.« Sie legte einen Moment die Hände aufs Gesicht. »O Paul, ich kann doch nicht für zwei Jahre nach Frankreich gehen und sie hier zurücklassen! Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist zuviel für mich, alles kommt auf einmal.«
Ein Windzug scheuchte die über den Rasen verstreuten Fotos auf. Paul saß ruhig da und kämpfte mit verschiedensten Empfindungen; er war wütend auf seinen Vater und traurig, daß er seine Schwester durch ihn verloren hatte. Außerdem sorgte er sich. Es war schrecklich, daß ihn das nun beschäftigte, aber was wäre, wenn er sich um seine Schwester würde kümmern müssen, die nicht ohne Hilfe leben konnte? Wie sollte er das schaffen? Er war bislang ja noch nicht mal einer
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