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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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diesen Augenblick eingefangen hatte – es war ein privater Moment, in dem er völlig gelöst gewesen war, einer der Augenblicke seines Lebens, in denen Paul wie kaum sonst gefühlt hatte, daß er am Leben war.
    »Okay. Aber ich verstehe nicht – warum bist du so sauer?«
    Seine Mutter preßte kurz die Hände aufs Gesicht und seufzte. »Erinnerst du dich an die Geschichte, wie du geboren wurdest, Paul? Das Schneegestöber, wie wir noch gerade rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen sind?«
    »Klar.« Er wartete darauf, daß sie fortfuhr, wußte nicht, was er sagen sollte, und doch verstand er instinktiv, daß dies mit seiner verstorbenen Schwester zu tun haben mußte.
    »Erinnerst du dich an die Krankenschwester? Caroline Gill? Haben wir dir von ihr erzählt?«
    »Ja. Ihren Namen habt ihr nicht erwähnt. Du hast erzählt, daß es da eine Krankenschwester mit blauen Augen gegeben hat.«
    »Genau. Tiefblaue Augen. Sie war gestern hier, Paul. Caroline Gill. Ich hatte sie seit dieser Nacht nicht wieder gesehen. Sie hatte mir etwas zu sagen. Etwas Schockierendes. Ich werde es dir einfach erzählen – ich weiß ohnehin nicht, was ich sonst tun sollte.«
    |497| Daraufhin nahm sie seine Hand. Er schrak nicht zurück. Seine Schwester, erzählte sie in ruhigem Ton, sei gar nicht bei der Geburt gestorben. Sie sei behindert zur Welt gekommen, Downsyndrom, und sein Vater habe Caroline Gill gebeten, sie in ein Heim nach Louisville zu geben.
    »Um uns zu schonen«, sagte seine Mutter und holte Luft. »Das hat sie mir erzählt, Caroline Gill. Doch sie brachte es nicht übers Herz. Sie hat deine Schwester mitgenommen, Paul. Sie hat Phoebe zu sich genommen. All die Jahre war deine Zwillingsschwester am Leben, und ihr geht es gut, sie ist in Pittsburgh aufgewachsen.«
    »Meine Schwester?« sagte Paul. »In Pittsburgh? Ich war letzte Woche noch in Pittsburgh«, fügte er hinzu, wohl wissend, daß die Antwort unpassend war. Dennoch wußte er nicht, was er sonst sagen könnte; eine seltsame Leere breitete sich in ihm aus. Er hatte eine Schwester. Das allein reichte schon. Sie war zurückgeblieben, unvollkommen, und sein Vater hatte sie weggegeben. Komischerweise war es nicht Wut, sondern Angst, die als nächstes in ihm aufstieg, eine altbekannte Furcht, all dem Druck entwachsen, den sein Vater auf ihn als Einzelkind ausgeübt hatte. Eine Angst, die Paul über die vielen Jahre – einem begabten Alchimisten gleich – in Wut und Rebellion umgewandelt hatte.
    »Caroline ist nach Pittsburgh gezogen, um dort ein neues Leben zu beginnen«, sagte seine Mutter. »Sie hat deine Schwester großgezogen. Es muß hart gewesen sein, vor allen Dingen zur damaligen Zeit. Ich versuche immer wieder, Dankbarkeit zu empfinden, daß sie so gut gewesen ist zu Phoebe, aber irgend etwas in mir tobt.«
    Paul schloß einen Augenblick die Augen und versuchte all diese Gedanken zusammenzubringen. Die Welt fühlte sich platt, merkwürdig und fremd an. Über die Jahre hatte er sich seine Schwester vorzustellen versucht, wie sie sein könnte, doch nun konnte er kein einziges Bild von ihr in seinem Kopf formen.
    |498| »Wie konnte er das nur tun?« fragte er schließlich. »Wie konnte er das geheimhalten?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte seine Mutter. »Dasselbe frage ich mich auch schon seit Stunden. Und wie konnte er einfach so sterben und uns dies alleine herausfinden lassen?«
    Schweigend saßen sie da. Paul dachte an einen Nachmittag zurück, als er mit seinem Vater Fotos entwickelt hatte – es war der Tag nach der Verwüstung der Dunkelkammer gewesen –, als er und auch sein Vater voller Schuldgefühle waren, als so vieles unausgesprochen blieb. Kamera, erklärte ihm sein Vater, käme von dem französischen Wort
chambre
, Zimmer oder Kammer. Im stillen Kämmerlein zu arbeiten hieße also, von der Außenwelt abgeschottet zu wirken. Das war der Glaube seines Vaters gewesen: daß jeder Mensch eine Monade sei. Dunkle Verästelungen im Herzen, eine Handvoll Knochen. Dies war die Welt seines Vaters, und sie hatte ihn niemals mehr verbittert als in diesem Augenblick.
    »Ich wundere mich, daß er mich nicht weggeben hat«, sagte er und dachte daran, wie heftig er immer gegen das Weltbild seines Vaters angekämpft hatte. Er war in die Welt hinausgegangen und hatte Gitarre gespielt, er hatte die Musik geradewegs in die Welt gesandt, und die Menschen hatten sich umgeschaut, ihre Getränke abgestellt und zugehört, und ein Raum voller Fremder war im Einklang, jeder mit

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